Idol
Frauen gern im Boden
verwurzelt gesehen wie bunte, duftende und gottlob stumme Blumen. Es wäre ihm auch lieb gewesen, wenn sie nach wenigen Tagen
verwelkt wären: man |45| hätte dann gar nicht erst Zeit, sich an sie zu binden. Ebenso wie
il bello muto
und ich, war er von Vittorias strahlender Erscheinung zunächst verblüfft. Doch geleitet von seinen Prinzipien, stellte er
sich sofort die Unordnung vor, die eine so unvergleichliche Schönheit im Staate verursachen könnte. Schon nahm in ihm die
Idee Gestalt an, Vittoria auf immer von seinem Neffen fernzuhalten, als sie ihn überzeugte, ein der Beachtung würdiges menschliches
Wesen zu sein: sie konnte Latein und hatte Juvenal gelesen.
Ich berichte hier von der raschen Entwicklung, die ich in der Einstellung des Kardinals zu Vittoria zu erraten glaubte, ohne
Montalto wegen seiner anfänglichen Grobheit über Gebühr zu tadeln. Ich bedaure diese Grobheiten, gewiß, doch es gibt viele
Präzedenzfälle. Unsere Heilige Mutter Kirche ist nicht immer sehr zartfühlend mit der charmanteren Hälfte der Menschheit umgegangen,
und ich möchte hier daran erinnern, daß erst im 9. Jahrhundert nach Christi Geburt die Bischöfe auf dem Konzil zu Mâcon dem
gentil sesso
1 eine Seele zuerkannt hatten, und das nur mit knapper Mehrheit.
Montalto vergaß die verdächtige Länge von Vittorias Haar und die Schlangen, die der Böse zweifellos darin versteckt hatte,
und sah in ihr jetzt nicht nur eine Seele, sondern auch einen Geist und begann ein lateinisches Verhör, ganz offensichtlich
zufrieden darüber, daß sie ihn so schnell verstand und ihm so gut antwortete.
»Vittoria, du mußt einen guten Lehrer gehabt haben, da er dich Juvenal lesen ließ?«
»Einen ausgezeichneten, Euer Eminenz, er war gut, fromm und gelehrt. Ein Franziskanermönch.«
Wissend, daß Seine Eminenz selbst aus diesem geistlichen Orden hervorgegangen war, lächelte sie ihn mit einem Hauch von Schalkhaftigkeit
und wahrhaft töchterlicher Zuneigung an.
Ich war von diesem Lächeln hingerissen, sowohl ob seiner Subtilität wie ob der darin verborgenen Herzensgüte. Mir wurde blitzartig
klar, daß Vittoria dem Kardinal die harten, feindseligen Bemerkungen schon verziehen hatte und nichts weiter verlangte, als
daß sie ihn als ihren Vater betrachten dürfe, sie, die selber keinen Vater mehr hatte. Ich beobachtete auch, daß |46| Seine Eminenz den gleichen Eindruck haben mußte, denn seine schrecklichen schwarzen Augen wurden sanft, und er fragte in milderem
Ton:
»Und wieso hat dieser Mönch Juvenal so geliebt?«
»Er war ein großer Verächter der Sitten unserer Zeit und bewunderte den lateinischen Dichter, weil dieser die Sitten seines
Zeitalters anprangerte.«
»Hat dich dieser Mönch auch mit italienischer Literatur bekannt gemacht?«
»Ja, Euer Eminenz. Er hat mich Dante, Petrarca, Boccaccio und Ariost lesen lassen.«
»Und welchen dieser Dichter schätzt du am meisten?«
»Dante wegen seiner Phantasie, und mehr noch Petrarca wegen seiner Sanftheit.«
»Boccaccio nicht?«
»Nein, Euer Eminenz. Boccaccio mag ich überhaupt nicht.«
Vittoria hatte mit Feuereifer gesprochen, und Montalto fragte lächelnd:
»Was hat er getan, daß du ihn so wenig magst?«
»Mein Lehrer hat mich
›Il Corbaccio‹
1 lesen lassen.«
Hier mußten der Kardinal,
il bello muto
und ich herzlich lachen. Auch Francesco, der nur ein wenig Jurisprudenz gelernt hatte, lächelte, nicht weil er
»Il Corbaccio«
gelesen hätte, sondern weil er sah, daß die Sonne das Eis zum Schmelzen gebracht hatte und seiner Liebe Wärme und Leben zurückgab.
»Du schätzt also Boccaccios Satire über die Frauen nicht?«
»Nein, Euer Eminenz«, sagte Vittoria, »ich finde sie ungerecht und grausam.«
»Wohlan«, sagte der Kardinal gutmütig, »um dich an deinem Mönch zu rächen, hättest du Ariosts Satire über die geistlichen
Orden lesen sollen.«
»Aber die habe ich ja gelesen«, entgegnete Vittoria lebhaft. »Mein Lehrer gab sie mir zum Lesen.«
Montalto schlug die Hände zusammen und lachte. »Na prächtig! Das ist mir ein Mönch mit Sinn für Gerechtigkeit! Er konnte sich
über sich selbst lustig machen! Vittoria, da du Petrarca ob seiner Sanftheit magst, rezitiere mir doch bitte dasjenige seiner
Sonette, das dich am meisten bewegt.«
|47| »Gern, Euer Eminenz«, antwortete Vittoria.
Leider ist mir entfallen, welches Sonett sie wählte, doch ich erinnere mich, mit was für einer volltönenden und
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