Idoru-Trilogie - Gibson, W: Idoru-Trilogie - Virtual Light/Idoru/All Tomorrow´s Parties
Richtung San Francisco, und Yamasaki bereute sofort, dass er sein Notebook in Skinners Behausung liegengelassen hatte. Dies war das erste Mal, dass er hier so etwas wie ein öffentliches Zeremoniell zu sehen bekam.
In dem engen, umschlossenen Raum war es unmöglich, die Prozession als etwas anderes denn als eine Abfolge von Teilnehmern wahrzunehmen, die einzeln oder zu zweit mitgingen, aber eine Prozession war es trotzdem, und zwar eindeutig ein Leichenzug oder eine Gedenkprozession. Zuerst kamen die Kinder, sieben nach seiner hastigen Zählung, eins nach dem anderen, in zerlumpter, aschgrauer Kleidung. Jedes Kind trug eine bemalte Gipsmaske, die offenkundig Shapely darstellen sollte. Ihr Gang hatte jedoch nichts Trauriges an sich; einige hüpften herum, entzückt von der Aufmerksamkeit, die man ihnen schenkte.
Yamasaki, der gerade heiße Suppe holen wollte, war zwischen dem Wagen einer Buchhändlerin und einem Stand mit Vögeln in Käfigen stehen geblieben. Es war ihm peinlich, dort mit der ungewohnten Form des Thermobehälters unter dem Arm herumzustehen; er kam sich total deplatziert vor. Wenn dies eine Beerdigung war, wurde dann vielleicht eine bestimmte Geste verlangt, oder eine Haltung, die er einnehmen sollte? Er warf einen raschen Blick zu der Buchhändlerin hinüber, einer großen Frau in einer schmierigen Schaffellweste, deren graue Haare hinten zu einem Knoten zusammengebunden waren, in dem zwei pinkfarbene Plastikstäbchen steckten.
Ihr Bestand, hauptsächlich vergilbende Taschenbücher in verschiedenen Stadien des Zerfalls, jedes einzelne in einem durchsichtigen Plastikbeutel, war vor ihr auf dem Wagen gestapelt. Sie hatte gerade laut ihre Waren angeboten, als sie die Kinder mit den Shapely-Masken sah; sie hatte seltsame Phrasen gerufen, Buchtitel, wie er vermutete: »Tal der Puppen, Blutmeridian, Auf Du und Du mit der Kettensäge …« Yamasaki, verblüfft von der verqueren amerikanischen Poesie, war drauf und dran gewesen, nach Auf Du und Du mit der Kettensäge zu fragen. Dann war sie verstummt, und er hatte die Kinder ebenfalls gesehen.
Nichts in ihrem Benehmen deutete jedoch darauf hin, dass die Prozession mehr von ihr verlangte als den Grad an Aufmerksamkeit, den sie ihr zukommen lassen wollte. Während sie die vorbeiziehenden Kinder beobachtete, zählte sie automatisch ihren Bestand, wie er sah; ihre Hände bewegten sich über die eingetüteten Bücher.
Der Besitzer des Vogelstandes, ein blasser Mann mit einem sorgfältig gepflegten schwarzen Schnurrbart, kratzte sich den Bauch. Sein Gesichtsausdruck war sanft und leer.
Nach den Kindern kamen fünf Tänzer in den Skelettanzügen der Noche da Muerte; Yamasaki sah jedoch, dass viele der Masken nur Halbmasken waren, Mikropore-Respiratoren, die so geformt waren, dass sie den grinsenden Kiefern von Totenschädeln glichen. Es handelte sich augenscheinlich um Teenager, und sie schüttelten sich zu einer inneren Musik von Seuche und Chaos. Da war eine starke erotische Unterströmung, etwas Gewalttätiges an den schwarzen, mit Knochen bemalten Schenkeln und den weißen, auf schmale Hintern in Jeans gemalten Comic-Becken. Als die Knochentänzer vorbeikamen, fixierte einer von ihnen Yamasaki mit einem scharfen Blick aus blauen, jugendlichen Augen über den schwarzen, gewölbten Nasenlöchern der weißen Atemschutzmaske.
Dann zwei hochgewachsene Gestalten, schwarze Männer mit hässlicher beiger Gesichtsbemalung, kostümiert als Chirurgen, in blassgrünen Kitteln und langen, scharlachroten Latexhandschuhen. Waren das die – vorwiegend weißen – Ärzte, deren Versagen vor Shapelys Ankunft so viele das Leben gekostet hatte, oder repräsentierten sie die brasilianischen biomedizinischen Firmen, unter deren erfolgreicher und lukrativer Aufsicht Shapely sich vom illegalen Strichjungen zum glorreichen Spender gewandelt hatte? Und nach ihnen die ersten Leichen, in mehrere Lagen milchiger Plastikplane gehüllt und verschnürt, jede auf einem zweirädrigen Karren, wie sie hier gebaut wurden, um Gepäck oder größere Mengen Lebensmittel zu transportieren.
Die vorübergehend mit schmalen Sperrholzpaletten abgedeckten Karren wurden hinten und vorn von Männern und Frauen ohne besonderes Kostüm oder Benehmen gelenkt, obwohl Yamasaki auffiel, dass sie weder nach links noch nach rechts schauten und keinen Blickkontakt mit den Zuschauern aufzunehmen schienen.
»Da ist Nigel«, sagte die Buchhändlerin, »und er hat wahrscheinlich den Karren gebaut, mit dem sie
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