Idoru-Trilogie - Gibson, W: Idoru-Trilogie - Virtual Light/Idoru/All Tomorrow´s Parties
Brille.« Er ging weiter.
Das Schnarchen der Blonden stockte, als sie über ein Luftloch mit Turbulenzen holperten. Chia klaubte die Brille und die Fingersets aus ihren Nestern aus sauberer Unterwäsche und legte sie neben sich, zwischen Hüfte und Armlehne. Sie zog den Sandbenders heraus, machte die Tasche zu und verkeilte sie mit der freien Hand und beiden Füßen unter dem Vordersitz. Sie konnte es kaum erwarten, hier rauszukommen.
Mit dem Sandbenders quer über den Schenkeln ließ sie einen Batteriecheck laufen. Acht Stunden im Sparmodus, wenn sie Glück hatte. Aber im Moment war ihr das egal. Sie rollte das Kabel vom Steg zwischen den Brillengläsern ab und steckte es ein. Die Fingersets hatten sich verheddert, wie immer. Lass dir Zeit, sagte sie sich. Ein zerrissenes Sensorband, und sie würde hier die ganze Nacht mit einem Ashleigh-Modine-Carter-Klon hocken. Kleine silberne Fingerhüte, biegsame Fingergeflechte; immer sachte … jeden einzelnen einstecken. Rein, und rein …
Die Blonde sagte irgendwas im Schlaf. Falls man es Schlaf nennen konnte.
Chia nahm ihre Brille, setzte sie auf und drückte auf das große Rot.
– Nichts wie weg hier.
Und weg war sie.
Sie saß auf dem Rand ihres Bettes und schaute auf das Poster von Lo Rez Skyline . Bis Lo es bemerkte. Er strich sich über seinen kümmerlichen Schnurrbart und grinste sie an.
»Hey, Chia.«
»Hey.« Sie sprach aus Erfahrung stimmlos. Schließlich war das privat.
»Was liegt denn an, Kleine?«
»Ich bin in einem Flugzeug. Auf dem Weg nach Japan.«
»Japan? Stark. Kennst du unsere Budokan-Scheibe?«
»Ich hab keine Lust, mich zu unterhalten, Lo.« Jedenfalls nicht mit einem Software-Agenten, so süß er auch sein mochte.
»Immer locker bleiben.« Er warf ihr sein katzenhaftes Grinsen zu, wobei sich seine Augen in den Winkeln fältelten, und erstarrte zum Standbild. Chia schaute sich mit einem Gefühl der Enttäuschung um. Die Dinge hatten irgendwie nicht die richtigen Dimensionen. Vielleicht hätte sie auch diese Fraktalpakete benutzen sollen, die für ein bisschen Unordnung sorgten, Staub in den Ecken und Schmutzflecken um den Lichtschalter herum platzierten. Zona Rosa schwor darauf. Wenn sie zu Hause war, fand Chia es gut, dass die Konstruktion immer sauberer war als ihr Zimmer. Jetzt bekam sie Heimweh davon; sie vermisste ihr echtes Zuhause.
Sie machte eine Geste zum Wohnzimmer hin und bewegte sich an der imaginären Tür zum Zimmer ihrer Mutter vorbei. Hier war alles nur als Drahtgittermodell vorhanden, und da gab es kein Dort, kein räumliches Innenleben. Das Wohnzimmer war teilweise auch nur skizzenhaft, mit Möbeln drin, die sie aus einem Playmobil-System importiert hatte, dem Vorläufer ihres Sandbenders. Wacklig geränderte Fische schwammen stumpfsinnig in einem gläsernen Couchtisch rum, den sie mit neun Jahren gebaut hatte. Die Bäume vor dem Fenster zur Straße waren noch älter: völlig zylindrische, buntstiftbraune Stämme, die alle
einen giftgrünen Wattebausch aus undifferenziertem Blattwerk trugen. Wenn sie die Bäume lange genug anschaute, würde draußen der Mumphalumphagus erscheinen und spielen wollen; deshalb ließ sie es bleiben.
Sie setzte sich auf das Playmobil-Sofa und schaute sich die auf dem Couchtisch verstreuten Programme an. Die System-Software des Sandbenders war eine Art Feldflasche (sie hatte »Was ist was?« zurate ziehen müssen, ihr Icon-Wörterbuch, um das rauszufinden), die wie ein altmodischer Wasserbeutel aus Segeltuch aussah. Er war abgenutzt und unglaublich organisch, und aus dem dichten Gewebe traten winzige Wassertropfen aus. Wenn man ganz nah ranging, sah man Dinge, die sich in den einzelnen Tröpfchen spiegelten: Schaltungsbauteile, die Ähnlichkeit mit einer Perlenstickerei oder der Haut am Hals einer Echse hatten, einen langen, leeren Strand unter einem grauen Himmel, Berge im Regen, das Wasser eines Bachs, das über verschiedenfarbige Steine plätscherte. Sie stand auf Sandbenders; das waren die besten, THE SANDBENDERS, OREGON, war kaum sichtbar auf das schwitzende Segeltuch projiziert, als ob es unter einer Wüstensonne nahezu ausgebleicht worden wäre. SYSTEM 5.9. (Sie besaß sämtliche Upgrades bis 6.3.; 6.4. war angeblich virenverseucht.)
Neben dem Wasserbeutel lagen ihre Schulsachen, repräsentiert von einem Ringheft (drei Ringe), das unter der Schmach künstlicher Bitfäule litt und dessen Drahtgitterumschlag von digitalem Modder angefressen war. Das würde sie neu formatieren
Weitere Kostenlose Bücher