Idoru-Trilogie - Gibson, W: Idoru-Trilogie - Virtual Light/Idoru/All Tomorrow´s Parties
nicht angekommen. Das war damals, als das Netz noch neu war, verstehst du?«
Chia wusste, dass es zum Zeitpunkt der Geburt ihrer Mutter überhaupt kein Netz gegeben hatte, oder fast keins, aber, wie ihre Lehrer in der Schule gern betonten, das war kaum vorstellbar. »Wie konnte da eine Stadt draus werden? Und warum ist alles so eng zusammengequetscht? «
»Irgendwer hatte die Idee, die Killerdatei umzukrempeln. In Wirklichkeit ist es nicht so gewesen, weißt du, aber so wird die Geschichte nun mal erzählt: dass die Leute, die Hak Nam gegründet haben, sauer waren, weil das Netz sehr frei gewesen war, man konnte tun, was man wollte, aber dann hatten die Regierungen und die Unternehmen andere Vorstellungen davon, was man tun durfte und was nicht. Also haben diese Leute rausgekriegt, wie man was aufribbeln konnte. Einen kleinen Ort, ein Stück, wie Stoff. Sie haben eine Art Killerdatei aus allem gemacht, aus allem, was sie nicht mochten, und das haben sie umgekrempelt«,
Zonas Hände bewegten sich wie die einer Geisterbeschwörerin, »und zur andern Seite durchgedrückt …«
»Zur andern Seite wovon ?«
»So haben sie’s doch gar nicht gemacht«, sagte Zona ungeduldig, »das ist nur die Geschichte . Wie sie’s gemacht haben, weiß ich nicht. Aber das ist die Geschichte, wie sie sie erzählen. Sie sind da hingegangen, um den Gesetzen zu entkommen. Um keine Gesetze zu haben, wie damals, als das Netz neu war.«
»Aber warum haben sie ihr dieses Aussehen gegeben?«
»Das weiß ich«, sagte Zona. »Die Frau, dir mir geholfen hat, mein Land aufzubauen, die hat’s mir erzählt. Da gab’s einen Ort in der Nähe von einem Flughafen, Kaulun, als Hongkong noch nicht chinesisch war, aber sie hatten vor langer Zeit einen Fehler gemacht, und dieser Ort – sehr klein, viele Menschen –, der gehörte noch zu China. Also gab’s dort kein Gesetz. Ein gesetzloser Ort. Immer mehr Menschen kamen hin; sie haben immer höher gebaut. Keine Vorschriften, einfach nur Bauen, nur Leute, die da wohnten. Die Polizei ist da nicht hin. Drogen und Huren und Spiele. Aber auch Menschen, die da lebten. Fabriken, Restaurants. Eine Stadt. Keine Gesetze.«
»Gibt’s die noch?«
»Nein«, sagte Zona, »sie haben sie abgerissen, bevor alles wieder chinesisch wurde. Haben alles zubetoniert und einen Parkplatz draus gemacht. Aber diese Leute, die angeblich ein Loch ins Netz gemacht hatten, die haben die Daten gefunden. Ihre Geschichte. Karten. Bilder. Sie haben sie wiederaufgebaut. «
»Weshalb?«
»Frag mich nicht. Frag sie. Die sind alle verrückt.« Zona ließ den Blick über die Piazza schweifen. »Mir wird’s hier irgendwie kalt …« Chia erwog, die Sonne aufgehen zu lassen, aber dann zeigte Zona in eine Richtung. »Wer ist das?«
Chia sah, wie ihr Music Master oder etwas, was so aussah, aus dem Dunkel der steinernen Bogengänge, wo die Cafés waren, auf sie zugeschlendert kam. Ein wallender dunkler Herrenmantel gab den Blick auf ein Futter in der Farbe polierten Bleis frei.
»Ich hab einen Software-Agenten, der so aussieht«, sagte Chia, »aber der sollte eigentlich nicht da sein, solange ich keine Brücke überquere. Und als ich vorhin hier war, konnte ich ihn nicht finden.«
»Das ist nicht die Person, die du gesehen hast?«
»Nein«, sagte Chia.
Eine Aura baute sich um Zona herum auf, und Zona wuchs, während die Auflösung der stacheligen Lichtwolke höher wurde. Sich verlagernde, einander überlappende Ebenen, wie Gespenster aus zerbrochenem Glas. Schillernde Insekten, die darin herumwirbelten.
Während die Gestalt in dem Herrenmantel über das Steinmosaik der Piazza auf sie zukam, löste sich der Schnee hinter ihr auf; sie hinterließ Fußabdrücke.
Zonas Aura wurde zusehends bedrohlicher; eine Gewitterwolke aus flackernder Dunkelheit bildete sich über den geborstenen Lichtflächen. Ein Geräusch ertönte, das Chia an eine dieser mit blauem Licht lockenden elektrischen Fliegenfallen erinnerte, in der gerade ein besonders saftiges Exemplar britzelnd zu Asche verbrannt wurde, und dann durchschnitten ganz in der Nähe riesige Schwingen die Luft: Zonas kolumbianische Kondore, Dinge aus den Datenhäfen. Und weg waren sie. Zona spie einen spanischen Wortstrom aus, der das Übersetzungsprogramm überforderte, einen langen, wohltönenden Fluch.
Vor Chias Augen verschwanden die Häuserfassaden um den riesigen Platz hinter der herannahenden Gestalt ihres Music Masters komplett hinter Schneevorhängen.
Zonas Messer schien jetzt
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