Idoru-Trilogie - Gibson, W: Idoru-Trilogie - Virtual Light/Idoru/All Tomorrow´s Parties
Yamasaki fühlt das ruhige, tiefe Beben einer Magnetschwebebahn, die irgendwo weiter unten in der Station einfährt, keine mechanische Vibration, sondern ein enormer Kolbenhub verdrängter Luft. »Es hat jetzt doch noch gewirkt. Das 5-SB. Der Lautlose-Jäger-Effekt.« Yamasaki hört eilige Schritte, vielleicht eine Armeslänge entfernt, hinter der Pappwand.
»Davon bekommen Sie Husten?« Yamasaki blinzelt, so dass seine neuen Kontaktlinsen unangenehm ins Schwimmen geraten.
»Nein«, sagt Laney und hustet in seine blasse, erhobene Hand, »ist irgend so ’n Virus. Den haben hier unten alle.«
»Ich habe mir Sorgen gemacht, als Sie verschwunden sind. Die haben angefangen, nach Ihnen zu suchen, aber als sie weg war …«
»… war die Kacke richtig am Dampfen.«
»Kacke?«
Laney nimmt den klobigen, altmodischen Datenhelm ab. Yamasaki kann nicht erkennen, woher er seinen Input bekommt, aber im sich verlagernden Licht des Displays zeichnen sich Laneys tief in den Höhlen liegende Augen ab. »Alles verändert sich, Yamasaki. Die Mutter aller Knotenpunkte kommt auf uns zu. Ich kann sie jetzt sehen. Alles wird anders.«
»Ich verstehe nicht.«
»Wissen Sie, was der Witz ist? Nichts hat sich verändert, als sie’s erwartet haben. Das Millennium war einfach ein christlicher Feiertag. Ich hab mich mit Geschichte beschäftigt,
Yamasaki. Ich kann die Knotenpunkte in der Geschichte sehen. So einen wie den hier gab’s zuletzt 1911.«
»Was ist 1911 passiert?«
»Alles ist anders geworden.«
»Wie?«
»Einfach so. So läuft das nun mal. Das sehe ich jetzt.«
»Laney«, sagt Yamasaki, »als Sie mir vom Lautlosen-Jäger-Effekt erzählt haben, haben Sie gesagt, die Opfer, die Testpersonen, würden sich auf eine bestimmte Medienfigur fixieren.«
»Ja.«
»Und, sind Sie auf sie fixiert?«
Laney starrt ihn an, die Augen hell vom Widerschein der Datenströme. »Nein. Nicht auf sie. Auf einen Kerl namens Harwood. Cody Harwood. Aber sie werden aufeinander treffen. In San Francisco. Und es kommt noch jemand dazu. Jemand, der so was wie eine Negativspur hinterlässt; man muss alles aus der Art seiner Abwesenheit schließen …«
»Warum haben Sie mich herbestellt, Laney? Das ist doch schrecklich hier. Soll ich Ihnen bei der Flucht helfen?« Yamasaki denkt an die Klingen des Schweizer Armeemessers in seiner Tasche. Eine ist gezackt; er könnte sich mühelos seinen Weg durch die Wand schneiden. Aber der psychologische Raum ist mächtig, sehr mächtig, er überwältigt ihn. Er fühlt sich sehr fern von Shinjuku, von Tokio, von allem. Er riecht Laneys Schweiß. »Es geht Ihnen nicht gut.«
»Rydell«, sagt Laney und setzt den Datenhelm wieder auf. »Dieser Privatcop aus dem Chateau. Der, den Sie kennen. Der mir in L. A. von Ihnen erzählt hat.«
»Ja?«
»Ich brauch einen Mann vor Ort, in San Francisco. Ich hab ein bisschen Geld aufgetan. Glaub nicht, dass sie’s verfolgen können; ich hab am Banksektor von DatAmerica gefummelt. Suchen Sie Rydell und sagen Sie ihm, er kann es haben, als Vorschuss.«
»Wofür?«
Laney schüttelt den Kopf. Die Kabel am Datenhelm bewegen sich im Dunkeln wie Schlangen. »Er muss da sein, mehr nicht. Irgendwas kommt auf uns zu. Alles verändert sich.«
»Laney, Sie sind krank. Ich bringe Sie …«
»… auf die Insel zurück? Da ist nichts. Und da wird auch nie was sein, jetzt, wo sie weg ist.«
Und Yamasaki weiß, dass das stimmt.
»Wo ist Rez?«, fragt Laney.
»Er ist auf Tournee durch die Kombinat-Staaten gegangen, als er zu der Überzeugung kam, dass sie fort war.«
Laney nickt nachdenklich. Der Datenhelm wippt im Dunkeln wie eine Gottesanbeterin auf und ab. »Besorgen Sie mir Rydell, Yamasaki. Ich sag Ihnen, wie er an das Geld kommt.«
»Aber warum?«
»Weil er dazugehört. Zum Knoten.«
Später blickt Yamasaki zu den Türmen von Shinjuku hinauf, zu den Mauern aus animiertem Licht, auf denen sich Signifikat und Signifikant im endlosen Ritual von Kommerz und Begehren zum Himmel winden. Riesige Gesichter füllen die Bildwände, Ikonen einer Schönheit, die banal und schrecklich zugleich ist.
Irgendwo unter ihm kauert Laney hustend in seinem Pappverschlag, und ganz DatAmerica schiebt sich unablässig in seine Augen. Laney ist sein Freund, und seinem Freund geht es nicht gut. Die eigentümlichen Fähigkeiten des Amerikaners im Umgang mit Daten sind das Resultat von Experimenten mit einer Substanz namens 5-SB, die in einem staatlichen Waisenhaus in Florida an ihm vorgenommen
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