Idoru-Trilogie - Gibson, W: Idoru-Trilogie - Virtual Light/Idoru/All Tomorrow´s Parties
war), und gab ihr eine Tasche mit einer Lo/Rez-Tourneejacke für Roadies drin. Die Ärmel waren aus transparentem Reyon, und das sichtbare Futter darunter sah wie flüssiges Quecksilber aus. Arleigh meinte, sie sei wirklich müllig, aber vielleicht habe sie einen Freund, dem sie gefallen würde. Sie stammte von ihrer Kombinat-Tour, und auf dem Rücken waren sämtliche Tourneedaten in drei verschiedenen Sprachen eingestickt.
Sie hatte sie noch nie getragen und sie bisher auch niemandem gezeigt. Sie hing in ihrem Schrank, unter einem Plastiküberzug aus der chemischen Reinigung. In letzter Zeit war sie in der Ortsgruppe nicht mehr so besonders aktiv gewesen. (Kelsey war ganz ausgetreten.) Chia glaubte nicht, dass auch nur ein Mitglied der Ortsgruppe schnallen würde, was passiert war, wenn sie es ihnen zu erzählen versuchte, und dann waren da ja auch all die Sachen, die sie ihnen ohnehin nicht erzählen konnte.
Aber in erster Linie war es die Stadt, die ihre Zeit beanspruchte, weil Rez und Rei dort waren, Schatten unter den anderen Schatten, aber man konnte sie trotzdem erkennen. Sie arbeiteten an ihrem Projekt.
Es gab dort viele, denen die Idee nicht gefiel, aber auch etliche, die sie gut fanden. Der Etrusker zum Beispiel. Er sagte, es sei das Verrückteste, seit sie jene erste Killerdatei umgekrempelt hätten.
Manchmal fragte sich Chia, ob sie alle das wirklich ernst meinten, weil es ihr einfach unmöglich erschien, dass jemand das überhaupt schaffen konnte. Dieses Ding auf einer Insel in der Bucht von Tokio zu erbauen.
Aber die Idoru sagte, dort wollten sie leben, wo sie doch jetzt verheiratet seien. Also würden sie’s tun.
Und wenn sie’s tun, dachte Chia und hörte das Zischen der Espressomatic, dann geh ich da hin.
futurematic
1 PAPPKARTONSTADT
Durch die abendliche Flut unbeachteter, unbekannter Gesichter inmitten dahinhastender schwarzer Schuhe und zusammengerollter Regenschirme, die Menschenmenge ein einziger Organismus, der sich ins stickige Innerste der Station hinabwälzt, kommt Shinya Yamasaki, das Notebook unterm Arm, als wäre es die Eiertasche eines genügsamen, aber halbwegs lebenstüchtigen Meeresgeschöpfs.
Von der Evolution befähigt, mit rempelnden Ellbogen, überdimensionalen Ginza-Einkaufstüten und erbarmungslosen Aktenkoffern fertigzuwerden, steigt Yamasaki mit seiner kleinen Informationsfracht in die Neontiefen. Hinab zu einem gefliesten Nebengang von relativer Stille, der parallele Rolltreppen verbindet.
Mittelsäulen in grüner Keramikverkleidung stützen eine von staubbepelzten Ventilatoren, Rauchmeldern und Lautsprechern zernarbte Decke. Jenseits der Säulen drückt sich eine regellose Kolonne ramponierter Pappkartons an die Wand, improvisierte Unterkünfte, errichtet von den Obdachlosen der Stadt. Yamasaki bleibt stehen, und im selben Moment überschwemmt das ozeanische Getrappel hin und her eilender Füße seine Sinne, nicht mehr im Zaum gehalten von dem Bewusstsein, dass er einen Auftrag zu erfüllen hat, und er wünscht sich aufrichtig und sehnlichst, woanders zu sein.
Er zuckt heftig zusammen, als eine schick gekleidete junge Matrone mit Chanel-Mikropore vor dem Gesicht ihm mit einem teuren dreirädrigen Kinderwagen über die Füße fährt. Yamasaki stößt eine krampfhafte Entschuldigung hervor,
und während die Mutter entschlossen davonstapft, erhascht er durch elastische Vorhänge aus einem pink getönten Kunststoff einen Blick auf den winzigen Passagier und den flackernden Schein eines Bildschirms.
Yamasaki seufzt unhörbar und hinkt zu den Behausungen aus Pappe. Er fragt sich kurz, was die vorbeiströmenden Pendler wohl denken werden, wenn sie sehen, wie er in den fünften Karton von links kriecht. Der reicht ihm kaum bis zur Brust, ist länger als die anderen und hat vage Ähnlichkeit mit einem Sarg. Eine Klappe aus weißer, von Daumenabdrücken verschmutzter Wellpappe dient als Tür,
Vielleicht sehen sie ihn ja gar nicht, denkt er. Schließlich hat er selbst auch nie jemanden in diese sauberen Behausungen hineingehen oder herauskommen sehen. Es ist, als würden ihre Bewohner bei der Transaktion, der sich die Existenz solcher Strukturen im Bereich des Bahnhofs verdankt, unsichtbar werden. Als Student der existenziellen Soziologie hat er sich insbesondere mit solchen Transaktionen befasst.
Und jetzt zögert er, kämpft gegen den Drang an, die Schuhe auszuziehen und sie neben das ziemlich schmierige Paar gelber Plastiksandalen auf dem sorgsam gefalteten Bogen
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