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Idoru

Idoru

Titel: Idoru Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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ungeduldig darauf wartete, daß sie weitersprach.
    »Nach seinem Tod hat die Software-Designerin dann angefangen, über das alles nachzudenken, und sie wollte was machen, was auf seiner Arbeit aufbaut. Also hat sie ihr Geld aus allen Firmen rausgezogen, für die sie gearbeitet hat, und Land an der Küste in Oregon gekauft …«
    Und der Zug fuhr in Shinjuku ein, alle standen auf und gingen zu den Türen, und der Geschäftsmann klappte seinen Brustfesselungscomic zu und klemmte ihn sich unter den Arm.
     
    Chia legte den Kopf weit in den Nacken, um das seltsamste Gebäude zu betrachten, das sie je gesehen hatte. Es war so geformt, wie man sich früher einen Roboter vorgestellt hatte, eine vereinfachte menschliche Gestalt mit Beinen und erhobenen Armen aus transparentem Kunststoff über einem Metallgerüst.
    Der Rumpf schien aus roten, gelben und blauen Ziegeln zu bestehen, die zu simplen Mustern angeordnet waren.
    Rolltreppen, Treppen und gewundene Rutschen zogen sich durch die hohlen Gliedmaßen, und aus dem rechteckigen Mund -163—
    im riesigen Gesicht des Dings kamen in regelmäßigen Abständen weiße Rauchwolken. Der Himmel darüber war gleichförmig grau und bleiern.
    »Tetsujin-Gebäude«, sagte Masahiko. »Monkey Boxing war nicht dort drin.«
    »Was ist das?«
    »Spielzeugfiguren-Institut von Osaka«, sagte er. »Monkey Boxing in dieser Richtung.« Er zog die wimmelnden Kringel auf seiner Bedienungsfläche zu Rate und zeigte die Straße entlang, vorbei an einem Fastfood-Laden namens California Reich, dessen Wahrzeichen eine stilisierte Palme vor einem dieser Kreuze mit Haken war, die sich die Netzkappen in ihrem Kurs über europäische Geschichte auf die Hände gemalt hatten.
    Der Lehrer war deswegen total sauer gewesen, aber Chia konnte sich nicht erinnern, daß sie auch Palmen gezeichnet hatten. Dann waren zwei von ihnen darüber in Streit geraten, in welche Richtung die Haken zeigen mußten, nach links oder nach rechts, und einer der beiden hatte den anderen mit einer Betäubungspistole geschockt, einem dieser Dinger, die sie immer aus den Einwegkameras machten, und der Lehrer hatte die Polizei holen müssen.
    »Neunter Stock, Wet Leaves Fortune Building«, sagte er und ging los, den belebten Bürgersteig entlang. Chia folgte ihm und fragte sich, wie lange ein Jetlag wohl dauern mochte und wie man ihn von schlichter Müdigkeit unterscheiden sollte.
    Vielleicht verspürte sie jetzt, was im Staatsbürgerkundekurs ihrer letzten Schule als Kulturschock bezeichnet worden war.
    Sie hatte das Gefühl, als wäre alles, jedes kleine Detail in Tokio gerade anders genug, um einen wachsenden Druck auf ihre Augen zu erzeugen, als wären sie es leid, all die Unterschiede zur Kenntnis nehmen zu müssen: ein kleiner Baum auf dem Bürgersteig in einer Art Korbgeflechthülle, das Neon-Avocadogrün eines Münztelefons, ein ernst -164—
    dreinblickendes Mädchen mit runder Brille und einem grauen Sweatshirt mit der Aufschrift FREE VAGINA … Sie hatte die Augen besonders weit offengehalten, um all diese Dinge aufzunehmen, als sollten sie später verarbeitet werden, aber jetzt waren ihre Augen müde, und die Unterschiede traten allmählich in den Hintergrund. Gleichzeitig kam es ihr so vor, als könnte sie – vielleicht, indem sie auf die richtige Weise blinzelte – das Ganze in Seattle zurückverwandeln, in einen Teil der Innenstadt, den sie mit ihrer Mutter zu Fuß durchquert hatte. Heimweh. Der Riemen ihrer Tasche grub sich jedesmal, wenn sie den linken Fuß aufsetzte, in ihre Schulter.
    Masahiko bog um eine Ecke. In Tokio schien es keine Gassen zu geben, jedenfalls nicht diese kleineren Straßen hinter den größeren wie in den Staaten, wo man den Müll rausstellte und wo es keine Geschäfte gab. Es gab kleinere Straßen, und dahinter noch kleinere, aber man wußte vorher nie, was man dort finden würde: einen Schuster, einen teuer wirkenden Frisiersalon, einen Schokolademacher, einen
    Zeitschriftenstand, an dem sie ein Exemplar des gruseligen Comics mit dieser eingewickelten Frau entdeckte.
    Noch einmal um die Ecke, und sie waren offenbar wieder auf einer Hauptstraße. Jedenfalls gab es hier Autos. Sie beobachtete, wie eins in eine Öffnung auf Höhe der Straße einbog und verschwand. Ihre Kopfhaut krabbelte. Was, wenn es dort zu Eddies Club raufging, diesem Whiskey Clone? Das war doch hier in der Gegend, oder? Wie groß war dieses Shinjuku überhaupt? Was, wenn der Graceland neben ihr an den Randstein fuhr? Wenn Eddie

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