Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
füge diesem Text von Kafka ein paar Zeilen von Beckett hinzu; sie sind seiner späten Erzählung »Schlecht gesehen schlecht gesagt« entnommen: »Es genügt, das Gras anzustarren. Wie es regungslos hängt. Bis zu dem Moment, da unterm unerbittlichen Blick es zu zittern beginnt. Ein kaum sichtbares Zittern aus seinem tiefsten Innern. Desgleichen das Haar. Regungslos gesträubt, erzittert es schließlich unter dem beinahe aufgebenden Auge.« Im Text von Kafka will ein Mann namens K. offenbar in ein Schloss eindringen, im Text von Beckett blickt eine ältere Frau auf zitterndes Gras. Die beiden Handlungen stehen für das, was ich Sozialbindung des Textes genannt habe; anders gesagt: sie lösen – durch Wiedererkennbarkeit der Details – den Kontakt zur real vorfindlichen Welt ein. Gleichzeitig merken wir, dass es beiden Texten nicht in erster Linie auf diese Sozialbindung ankommt. Durch ihre Kunstgestalt überheben sie sich über die sozialen Tatsachen, die sie gleichwohl benennen, und konstituieren eine Kunstwelt für sich.
Die beiden Personen in meinem Roman »Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz« sind ein Liebespaar. Sie sind beide Künstler, und sie sind als Künstler beide unbekannt. Zu Beginn des Buches treten sie von Frankfurt aus (per Bahn) eine längere Reise an, die sie in drei europäische Kunstmetropolen führen wird, nach Wien, Paris und Amsterdam. Der Roman wird aus der Ich-Perspektive des männlichen Künstlers erzählt. In allen drei Städten verfolgen die beiden Reisenden explizit Kunstabsichten. In Wien besuchen die beiden das einzige von Ludwig Wittgenstein und seinem Freund Paul Engelmann erbaute Wohnhaus, in Paris stellen sie in ihrem Hotelzimmer ein bekanntes Gemälde von Edgar Degas nach, in Amsterdam besichtigen sie die Wohnung, die Max Beckmann während seines holländischen Exils bewohnt hat.
Aber auch dann, wenn die beiden nicht in Museen sind und keine Kunst anschauen, haben sie Kunsterlebnisse. Das hängt mit ihrem besonderen Explorationsverhältnis zur gegenständlichen Welt zusammen. Anders gesagt: Sie betrachten die Welt, als sei auch diese Kunst. Auffällig ist in allen Textteilen die Vorherrschaft des Wahrnehmens, Beobachtens, Reflektierens, Spazierengehens. Diese Dominanz ist ein Reflex auf die Grundbefindlichkeit, trotz der versuchten Auflösung des Subjekts nach wie vor ein Subjekt zu bleiben. Eingelöst wird dieser Anspruch durch eine Selbsteinordnung in eine Dreierkonstellation aus Gesellschaft, Individualisierung und Ästhetik. Wobei das Individuum der Gesellschaft dadurch entkommt, indem es sich mit von ihm selbst erfundenen ästhetischen Prozessen eine Distanz von der Gesellschaft erarbeitet. Diese Distanzierung findet in meinen Büchern über das Umhergehen, über das Spazierengehen statt. Die Individuen verschaffen sich sozusagen andere innere Entwürfe als die, die die Gesellschaft zur Unterhaltung und zur Ablenkung bereitstellt. Die einzelnen, sowohl der Erzähler aus »Leise singende Frauen« als auch der Protagonist aus »Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz«, sind unterwegs, um für sich persönlich (zum Beispiel) eigene Seh-Programme zu suchen. Diese Vorgänge sind nur vereinzelt als ästhetische erkennbar; meistens aber sind es naturwüchsige Fluchtbewegungen, die stets dazu dienen, der als Einkesselung empfundenen Welt der fertigen Botschaften zu entkommen. Diese Anfütterungen des Ichs gehen nicht immer plus/minus Null auf, aber auch im Scheitern ist ihr Sinn noch erfahrbar. Der Sinn muss nicht vollständig bei sich selbst ankommen, um noch als tauglicher Sinn verwendbar zu sein. Während des Spazierengehens wird sowohl die Dissoziierung des Ichs erlebt als auch der Appell, sich vor dieser Dissoziierung zu retten – durch den Eskapismus der Wege und des Denkens während des Gehens. Zuweilen treffen meine Protagonisten auf Freunde oder frühere Arbeitskollegen und werden sich dabei inne, in welch starkem Maße diese Menschen in verordneten Lebenswelten und verordneten Biografien existieren. Das sind Kippstellen, in denen den Erzählern plötzlich die Notwendigkeit des Erarbeitens von Subjektivität aufgeht. Subjektivität in den Strömen des konsumistischen Arbeitslebens ist dann nichts anderes als eine überraschende, befreiende Intimität mit sich selbst, die nur dem aufgeht, der sie als Zustand schätzt und außerdem weiß, dass sie in unseren Instantwelten nicht vorkommt. Persönliche Subjektivität wird dort mehr und mehr ausgeschlossen,
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