Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
was auch jeder festangestellte Mitarbeiter machen muss – nur in verschärfter Weise: weil er sich die Beobachterposition stets von außen erkämpfen muss. Beide Bücher erreichen nicht mehr die Materialdichte, die sprachliche Präzision und die Wahrnehmungsraffinesse der »Abschaffel«-Romane. In beiden Romanen zeigt sich ein quasi ausgepumpter, fast schon ermatteter Realismus; man kann auch sagen: es zeigt sich die schwächelnde Innovationskraft des Verfassers. Tatsächlich machte sich die nachlassende realistische Darstellungspotenz in den folgenden Jahren mehr und mehr bemerkbar. Ungefähr in der Mitte der achtziger Jahre war ich bereit, in den sich mehrenden Hinweisen auf eine bis dahin unbekannte Schreibunsicherheit die Zeichen einer Krise zu sehen. Darum handelte es sich tatsächlich; die Krise traf mich unvorbereitet und überraschend, wenn auch nicht völlig ahnungslos. Aus der Literatur wusste ich, dass es in jedem Schriftstellerleben Krisen gibt, vorübergehende und endgültige, das heißt solche, nach denen es keinen Neubeginn des Schreibens mehr gab. Auch ich rechnete nicht mit einer – wie auch immer gearteten – Fortsetzbarkeit des Schreibens. Die Krise, das heißt: das Nichtschreiben, dauerte in meinem Fall rund fünf Jahre. Das bedeutete: fünf Jahre ohne Buch. Gemäß der normativen Kraft des Faktischen hielt ich die Krise für das Ende meines Schreibens. Ich bereitete mich darauf vor, zum Journalismus zurückzukehren – und das literarische Schreiben für eine schöne, jetzt aber untergegangene Begleitung meiner Jugend zu halten. Ich fing an – gleichsam zur Instrumentalisierung des Abschieds –, kleine Texte von höchstens einer halben Seite Umfang zu schreiben, die nicht projektgebunden waren, das heißt, von denen ich nicht wusste, warum ich sie schrieb und ob ich sie jemals würde brauchen können. Es handelte sich um knappe, oft lakonisch gehaltene Notate zu den Themen Kunst, Liebe, Alltag, Reisen; unter den Texten gab es keine inhaltlichen oder sonstigen Korrespondenzen; oder sagen wir vorsichtiger: ich erkannte die Korrespondenzen erst später. Tatsächlich entwickelte sich aus dem anwachsenden Konvolut kurzer Texte allmählich mein neues Buch, das erste Buch nach der Krise des Realismus. Es erschien erstmals 1989 und trägt den Titel: »Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz«. Noch in dieser Aufzählung von vier Substantiven steckt ein Verweis auf Form und Anordnung der Texte, das heißt auf eine lockere Abfolge bloß assoziativ miteinander verknüpfter Teile, die ich nicht nachträglich (und künstlich) zu einem konventionell geschlossenen Ganzen habe umformen wollen. Das heißt, das Buch hat die Form eines Albums, einer lockeren Ansammlung von kurzen Texten. In der Germanistik nennt man die Fragmentarisierung der Texte die Auflösung des Erzählkontinuums. Die praktische Folge ist: Der Roman beginnt (sozusagen) auf jeder Seite neu. Warum der Gesamttext trotz der Auflösung des Erzählkontinuums immer noch ein Roman genannt werden kann, liegt in der Einheit stiftenden Erzählerperspektive. Oder, genauer: es ist der Ich-Erzähler, der alle Notate durch seine Wahrnehmungspraxis miteinander verknüpft und dadurch die Dennoch-Romanhaftigkeit der Form hervorbringt. Ich verfolgte eine Art Doppelstrategie. Einerseits strebte ich nach wie vor (wie im realistischen Roman) eine Sozialbindung des Textes an. Das heißt, ich wollte, dass der »Held« aus einer ihm vertrauten sozialen Welt herausfällt. Gleichzeitig wollte ich die Autonomie eines Kunsttextes erreichen, das heißt: die Erzählung sollte durch ihren artifiziellen Charakter die Pflicht zur Abbildung von Welt hinter sich lassen. Der Text musste durch seine Gestalt eine Eigenwertigkeit beanspruchen, das heißt: er sollte durch sich selbst den Kunststatus einfordern. Diese Zweiteilung – also: einerseits Sozialverknüpfung und andererseits Souveränität durch Formanstrengung – ist zu Beginn der Moderne begründet worden. Damit wir alle wissen, wovon die Rede ist, nenne ich kurz zwei Beispiele von Kafka und Beckett. Ich lese Ihnen den ersten Abschnitt des Romans »Das Schloss« von Kafka vor: »Es war spätabends, als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schlossberg war nichts zu sehen, Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloss an. Lange stand K. auf der Holzbrücke, die von der Landstraße zum Dorf führte, und blickte in die scheinbare Leere empor.« Ich
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