Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
weil man nicht mehr bei sich selbst sein soll oder darf, sondern bei dem, wo und womit man sein Geld verdient, oder bei dem, woran man sich sonst orientiert. Diese verwendungsfreie Intimität mit sich selbst ist das Resultat des Abstands, den sich die Erzähler durch Spazierengehen erarbeiten.
In ihrer selbst konstruierten Beobachterposition machen die beiden Reisenden nicht nur den Gewinn der Distinktion; genauso wichtig ist dem Paar, dass in neuen Kunsterlebnissen die Erfahrung der Individuation wiederholt werden kann. Die Wiederholung wird nicht als Doublette, sondern als Festigung des Erfahrenen erlebt.
Das ist der entscheidende Vorgang: eigentlich das innere Thema des Romans. Die beiden Reisenden sind immer wieder Objekt eines erstaunlichen Vorgangs: Indem ihnen die von ihnen betrachtete Kunst antwortet, spricht die Kunst ihr eigenes Ich an – und in diesem Angesprochensein gewinnt ihr Ich Konturen, von denen sie zuvor nichts gewusst haben. Man muss das Thema der (sozusagen) Ich-Werdung durch Kunst vor dem Hintergrund einer Debatte sehen, die in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts einen Höhepunkt und wohl auch ihr Finale erlebt hatte. Ich meine die sich über viele Jahre hinziehende Auseinandersetzung darüber, ob der Mensch heute noch ein Individuum sein kann, ob er ein unverwechselbares, personales Ich hat, das ihn gegen andere Iche autonomisiert, weil es ihm eine eigene Kontur als Person gibt. Ich referiere diese Positionen mit Absicht in Frageform, denn in den siebziger und achtziger Jahren galt es als ausgemacht, dass diese ehemals unerschütterlichen Kernbestände des Menschen eigentlich unhaltbar geworden waren.
Der in den siebziger und achtziger Jahren tonangebende Michel Foucault hielt den Menschen für eine »Erfindung«, die er durch eine Rekonstruktion der »Archäologie unseres Denkens« aus dem Sattel heben wollte. Der schon mehrfach erwähnte Theodor W. Adorno hatte für seine These vom Ende des Subjekts eher gesellschaftlich-politische Gründe. Der Emigrant und Rückkehrer Adorno war geprägt vom Faschismus, in dem er primär die Auslöschung des Individuums erkannte und erkennen musste. An der These von der Nullifizierung des Ichs hielt er auch in der Nachkriegszeit in Frankfurt fest; nach seiner Einschätzung war der einzelne nun ein Opfer von ökonomischen und ideologischen Strategien, die ihn zwar nicht (wie im Faschismus) politisch gleichschalteten, aber doch entschieden daran hinderten, ein autonomes Ich zu werden. Das heißt, bei Adorno gehen die faschistische und die konsumistische Vernichtung des Subjekts Hand in Hand, was schon in den sechziger und siebziger Jahren nicht alle hinnehmen wollten. Jürgen Habermas, der Nachfolger auf Adornos Lehrstuhl, sprach diskreter von einer »Kolonialisierung unserer Lebenswelten«. Gemeint war damit sowohl eine Kritik des Subjekts als auch eine Kritik der Kräfte, die das Subjekt verhüllt erobern, das heißt »kolonialisierten« und für fremde Zwecke missbrauchen.
Das Paar in meinem Roman hat nie etwas erfahren von der Negation seiner gesellschaftlichen Lage. Als Künstler gehen sie von ihrem Ich aus wie von einer Setzung; die beiden halten sich an die Praxis ihrer Existenz, die sich von fremden Einsprüchen unabhängig weiß. Man kann auch sagen: Ein Mensch ist dann ein Individuum, wenn er sich praktisch dabei zusehen kann, wie er durch persönliche, individuelle Akte sein In-der-Welt-Sein beglaubigt. Es ist gesagt worden, dass es vor allem die Kunst ist, die Hebammendienste bei der Ich-Werdung leistet.
Ich will ein charakteristisches Beispiel dafür nennen. Von Wien aus schreibt der Erzähler an seinen zu Hause gebliebenen Freund Paul einen Brief. Er hat folgenden Wortlaut:
»Lieber Paul,
es muss Folgen haben, dass es gleichgültig geworden ist, was in der Kunst geschieht. Was nach der Indifferenz übrigbleibt, kann nur eine Kunst sein, die sich an einzelne wendet, für die sie dann ein persönliches Zeichen werden kann. Gestern hat Gesa ein Foto von mir gemacht, das wir erst in frühestens zehn Jahren anschauen wollen. Es war ein bestimmter Augenblick in einem Café. Am Nebentisch sagte jemand den Satz: Deutschland hängt mir zum Hals heraus. Wir beneideten den Mann um seinen Satz; ein ganzes Land hing ihm zum Hals heraus! Es schien uns in diesem Augenblick möglich und glaubhaft. Man kann nicht sagen: Die ganze Welt hängt mir zum Hals heraus. Das wäre zuviel. Es muss etwas Bestimmtes sein, ein Mensch oder ein
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