Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
Land zum Beispiel. Wir mussten lachen, weil wir verblüfft waren. In diesem Augenblick hat Gesa fotografiert; wenn wir in zehn Jahren das Foto anschauen, wollen wir uns fragen, was aus unserer Wiener Verblüffung geworden ist. Danach bat ich Gesa, mir für eine Weile ihre Schuhe zu geben. Sie zog sie aus und gab sie mir. Ich zeichnete mit dem Kugelschreiber die Konturen der Abnutzung auf den Sohlen ihrer Schuhe nach. Der am meisten abgenutzte Fleck (ich habe ihn stark schraffiert) befand sich in der Mitte der Sohlen. Eines Tages werden die Strümpfe aus diesen Flecken herausschauen. Gesa sagt, sie will die Schuhe bis zu diesem Zeitpunkt tragen und dann zwei Objekte aus ihnen machen. Ziemlich beglückt haben wir das Café verlassen. Ich weiß nicht, wie man diese Kunst nennen kann. Am besten wird sein, sie trägt keinen Namen. Denn mit dem Namen ist auch gleich ein falsches Bild von ihr auf der Welt, mit dem falschen Bild kommt das falsche Staunen, und mit dem falschen Staunen ist auch das Publikum wieder da. Dabei geht es nur darum, sich ein paar Bereiche zu schaffen, die vor jedem Zugriff sicher sind. Es könnte die empfindlichste Kunst werden, die es je gegeben hat. Es könnte dabei eine neue Verheimlichung des Menschen herauskommen; aber haben wir die nicht auch nötig? Es geht uns gut; im Augenblick wissen wir nicht, wie lange wir hierbleiben werden und wo wir hinfahren, wenn wir hier genug haben. Ich werde dir noch einmal schreiben. Aber sorg dich nicht, wenn es nicht geschieht; das kann nur heißen, dass wir beschäftigt sind. Grüße von Gesa. Dein W.«
Ich habe diese Stelle ausgesucht, weil ich Ihnen zeigen will, wie die privaten Kunstakte in der Praxis aussehen. Es geht immer darum, das Verschwinden bedrohter Ich-Anteile zu verhindern und das Entstehen neuer Ich-Anteile zu begünstigen. Wichtig sind vor allem die Sätze: »Dabei geht es nur darum, sich ein paar Bereiche zu schaffen, die vor jedem Zugriff sicher sind (…) Es könnte dabei eine neue Verheimlichung des Menschen herauskommen; aber haben wir die nicht auch nötig?« Durch Alltagskunst dieser Art entsteht also nicht nur ein dialogisches Verhältnis zur Welt der Erscheinungen, sondern auch ein innerer Bezirk, der vor unerwünschten Einsprüchen dieser Außenwelt sicher ist. Der Kunstakt gewährt Abstand, den das »Leben« nicht ohne weiteres einräumt. Der Augenblick der Besonderung des Ichs muss in jedem Fall frei wählbar sein; nur so entsteht das Ineinanderfließen von Alltag und Distanzierung von Alltag, eine persönliche Annäherung an die »alte« Identität von Kunst und Leben. Dieses Ineinanderfließen ist nur möglich, weil die Kunst jederzeit in die Privatheit der beiden Reisenden eingebunden ist. Die Materialien ihrer Kunstakte sind ihrem Leben selbst entnommen. Es ist kein Zufall, dass diese Art von Kunst keinen Namen hat. Und es ist auch kein Zufall, dass die beiden Künstler sich nicht theoretisch über ihre Kunst äußern. Niemals würden sie sich so verhalten, wie ich mich in dieser Vorlesung verhalte, sie würden keine erklärenden und/oder erschließenden Erläuterungen abgeben. Denn sie wollen gerade die konventionelle Dichotomie zwischen der Kunst einerseits und dem Betrachter von Kunst andererseits, die wir aus dem Museum kennen, vermeiden; sie wollen, dass die Kunst in die Unmittelbarkeit ihres Alltags eingreift. Nichts anderes will auch der Erzähler aus dem Roman »Leise singende Frauen«, erschienen 1992, drei Jahre nach »Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz«. Der Roman »Leise singende Frauen« wird angetrieben durch ein Minimum an Handlung. Der Erzähler hat einen kleinen, privaten, von ihm geschätzten Gegenstand (eine Art Talisman) in der Stadt verloren. Nun macht er sich auf den Weg, den Gegenstand – es ist ein Spielzeug: ein Kreisel – wieder aufzufinden. Er hat kein Glück, er findet den Kreisel nicht mehr. Stattdessen stößt er auf andere Glücke. Denn während der Suche trifft er auf eine Vielzahl von Gegenständen und Objekten, zu denen er rasch (sozusagen) Liebhaber-Verhältnisse eröffnet: einen Hut, ein langes Frauenhaar, eine Vogelfeder. Die gefundenen Gegenstände erfüllen dieselbe Aufgabe wie die Kunst in dem Roman »Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz«. Der Erzähler stellt sich, indem er nach privaten Fetischen sucht, den Zumutungen der Zeit und der Stadt – und entkommt ihnen zugleich, weil er sich inmitten der Schroffheiten der Gegenwart von einem privaten Anliegen geleitet
Weitere Kostenlose Bücher