Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
Schaufenster der Buchhandlungen, in denen oft Kostbarkeiten ausgestellt sind, die ich in den Schaufenstern der meisten anderen Buchhandlungen vermisse. Ich geriet vor die Schaufenster der wahrscheinlich schönsten Buchhandlung, die ich an diesem Abend habe entdecken können, der Romanischen Buchhandlung. Ich streckte den Kopf in die Höhe, um auch das makellose Parkett, die schönen Teppiche, das geschmackvolle Interieur zu bewundern.
Es dauerte eine Weile, bis ich den beunruhigten Blick des Besitzers bemerkte. Er schaute auf die Bratwurst in meiner Hand. Natürlich befürchtete er, ich würde möglicherweise mit dieser seinen kostbaren Laden betreten und, wer weiß, auch noch die Bücher anfassen. Um seine Befürchtungen zu zerstreuen, aß ich die Bratwurst gut sichtbar außerhalb des Ladens auf. Aber auch mit dieser Umsicht hatte ich seine Sorgen nicht aus der Welt geschafft. Er ängstigte sich, wie sich zeigte, mit Grund. Ich putzte mir (alles gut sichtbar für den Buchhändler im Laden) mit einem nach Zitrone duftenden Erfrischungstuch die Hände, trocknete sie sorgfältig mit einem frischen Taschentuch ab, und betrat das Geschäft des Buchhändlers. Ich wollte sagen: Darf ich hier ein bisschen rumschauen? Tatsächlich habe ich gesagt: Darf ich hier ein bisschen rumsauen? Die Beunruhigung des Buchhändlers wuchs unermesslich, meine Schamhaftigkeit ebenfalls. Ich verließ wortlos und schnell den Laden und ward dort seither nicht mehr gesehen.
Nach hundert Jahren Psychopathologie des Alltagslebens kennen wir uns im Herkunftsgebiet solcher Versprecher ziemlich gut aus. Wahrscheinlich hat das edle Interieur der Buchhandlung mein Unbewusstes angeregt, und es entstand für ein paar fatale Augenblicke der unwiderstehliche Impuls, die Norm der schönen Übereinkünfte ein wenig zu beschmutzen, damit wenigstens im Sprechakt die momentweise Inszenierung meiner infantilen Lust auf ihre Kosten kommen durfte. Das klingt plausibel, kommt mir aber dennoch unzureichend vor. Der Einbruch einer verinnerlichten Norm in die allgemeine Sprachverwendung ist erheblich komplexer, als dass man ihr allein mit einem schematischen Bezug aufs Unbewusste beikommen könnte. Aufzuckende Sprachverfehlung ist ja nicht nur ein momentweises In-der-ungenügenden-Sprache-Sein, sondern immer auch die Verlegenheit eines Subjekts, das von einer anderen inneren Sprache weiß , von dieser aber gerade mal wieder abgewiesen wird. Wir wissen nicht nur nicht, wer oder was in uns spricht; wir sind auch unzufrieden mit dem, was unser Sprachzentrum sagt. Wir können noch soviel und noch so eloquent reden, es verschwindet nicht das Gefühl eines Mangels, der gleichzeitig die einzige Gewissheit unseres Sprechens ist: Die längste Zeit unseres Lebens verbringen wir als nicht ausgedrückte Individuen. Der Sprachmangel ist ein Ungenügen mit der konventionellen Subjekt-Prädikat-Objekt-Sprache.
Wer will, kann das menschliche Sprechen als einen fortlaufenden Akt der Selbstbehinderung beschreiben. Eingeschränkt sind die Sprecher von ihrer Natur, die ihnen nicht erlaubt, das Vorgestellte genau zu sagen. Fast immer bleiben die gesprochenen Worte hinter dem Auszusagenden zurück. Augustinus hat für dieses Problem die Formel vom Verbum interius, vom »inneren Wort« verwendet; sie verlegt die Quelle des Mangels in die Mitte unseres Sprachzentrums. Seither ist uns schwer erträglich, dass die Innerlichkeit der Sprache autonomer ist als unser Körper-Ich. Die Unabhängigkeit des Sprachzentrums ist damit praktisch unzugänglich und degradiert das Ich zu einem bloßen Worttransporteur, der genauso oft irrt wie er spricht.
Aber wir wären nicht die, die wir sind, wenn wir aus dem Mangel nicht den Anstoß zu einer Produktions-Stimulans machen würden. Von Kleist stammt der Satz: »Denn nicht wir wissen, es ist allererst ein gewisser Zustand unsrer, welcher weiß.« Der Satz weist voraus auf die Konstruktion des Unbewussten, das etwas von uns weiß, ohne dass wir es wissen. Ein vorhandenes Wissen, wie verborgen auch immer, muss ein ausgedrücktes und also auch ein versprachlichtes Wissen sein. So weit wird Freud später nicht gehen. Der Entwurf seines Unbewussten geht davon aus, dass eine konkrete inhaltliche Beschreibung des Unbewussten nicht zu haben sein wird. Er nannte es das Unbewusste, weil es sich nicht zeigt.
Wer kennt nicht dieses Gefühl, dass wir inmitten einer heftig sprudelnden Redseligkeit plötzlich übermannt werden von der inneren Gewissheit, dass wir die
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