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Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Titel: Idyllen in der Halbnatur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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westlichen Zivilisation bleiben wird. Die Spezialisten, die heute allgemeine, öffentliche Schönheit hervorbringen könnten (Ingenieure, Stadtplaner, Architekten etc.), sind so stark, das heißt ausschließlich vom Zwang zur Rentabilität beherrscht, dass sie ihre eigentliche Aufgabe, die Vermehrung des Wohlgefallens, haben vergessen müssen. Ich nenne ein Beispiel aus der jüngsten Gegenwart. Vor kurzem ist das »größte Schiff der Welt«, die »Queen Mary«, in Dienst genommen worden. Das Schiff ist ein gewaltiger Koloss, ein Monster. Es ist gebaut worden von Leuten, die vergessen haben, wie ein schönes Schiff aussieht. Wer die Queen Mary an sich vorüberziehen lässt, hat plötzlich das Gefühl, es handelt sich gar nicht um ein Schiff, sondern um eine schwimmende Mietskaserne, bis ins Detail den an Land herumstehenden Vorbildern nachgebaut: hier wie dort erkennen wir die trübsinnige Wohnblock-Bauweise, die absolut phantasielos angeordneten Fensterreihen, die im Schachbrett-Stil die Horizontalen und die Vertikalen miteinander verbindet. Im Architektenjargon nennt man eine solche Front eine »streng gerasterte Lochfassade«. Knapper und elender kann man den Mangel nicht beschreiben.
    Eigenartig ist, dass niemand die Ähnlichkeit zwischen Luxusdampfer und Mietskaserne auffällt. Das Fernsehen, unser stumpfes Medium, ist wie überall zur Stelle und betet die Superlative nach, die die Reederei gerne zum Besten gibt. Das sogenannte Schiff hat 157000 PS, es ist 345 Meter lang und 72 Meter hoch, es kann soundso viel tausend Passagiere aufnehmen – und so weiter. Niemand spricht aus, dass allein die Unmäßigkeit des Schiffes hässlich ist. Es kann niemand aussprechen, denn das Publikum ist genauso schönheitsvergessen wie die Erbauer des Schiffs. Es erinnert sich niemand mehr daran, dass ein schöner Ozeandampfer vor allem durch niedrige Deckaufbauten charakterisiert ist. Der Schiffsaufbau darf keinesfalls wuchtiger sein als der Schiffskörper. Die Mannschaftswohnräume und die Kabinen der Passagiere müssen in einer waagrechten Linie angelegt sein, ebenso die Offizierskammern, die Rettungsboote, die Speisesäle und die Vorratsräume. Die Schiffsaufbauten müssen eine sanft abgestufte Pyramide ergeben; einschließlich der Schornsteine, die sich in einem rhythmischen Abstand zueinander über die ganze Länge des Schiffs verteilen. Dieses Schönheitswissen ist zwar in jedem besseren Fachlexikon zu finden, aber man muss ein moderner, effizienter Schiffsplaner sein, um es komplett links liegenzulassen.
    Fast noch schlimmer als die Schönheitsvergessenheit wirkt sich aus, dass die Leute, die heute Schönheit produzieren könnten, kein assoziatives Vermögen mehr haben. Sie fragen sich nicht mehr: Wie schaut das aus, was wir konstruieren? Ist es seinem eigenen Vorbild noch ähnlich – oder hat es die Verbindung zur schönheitsüberlieferten Form verloren? Der Grund der Hässlichkeit liegt darin, dass unsere Räume gezwungen werden, ihre Selbstähnlichkeit aufzugeben. Eine Wartehalle soll aussehen wie eine Bar, eine Bar soll aussehen wie eine Yacht, eine Yacht soll aussehen wie ein Salon, ein Salon soll aussehen wie ein Palast.
    Schon oft ist mir aufgefallen, dass neue Architektur, wenn sie vorgestellt und eingeweiht wird, von Zeitgenossen durchweg bewundert und gerühmt wird. Man lobt die Kühnheit der Formen, die Modernität der Linienführungen, die Eigenart der Räume, die Intimität des Lichteinfalls (diese und viele andere Floskeln kann man dann hören und lesen), kurz: die Schönheit des ganzen Ensembles. Dann geschieht etwas Merkwürdiges. Kaum sind die so gepriesenen Neubauten ein paar Monate alt, wird Unmut laut. Die Leute, die noch vor kurzem ihre freudige Überraschung geäußert haben, sind jetzt anderer Meinung. Sie beklagen, dass das neue Rathaus (Kunsthaus, Wohnhaus, Schulhaus) an den Menschen vorbei geplant sei, dass es kalt und unsensibel ausschaut und dass der Neubau die Erfahrung der Fremdheit in der urbanen Welt nur verstärke.
    Ich denke nicht, dass die Leute, die so widersprüchlich urteilen, Lügner sind. Sie fallen nur immer wieder darauf herein, dass das Neue, weil es sich formal von seinen Vorgängern abhebt, auch schon schön sei. Neue Architektur gehört zu den typischen Trugbildern jeder Saison. Ein oder zwei Jahre genügen, und der in den Himmel gehobene Theaterneubau in São Paulo oder Zürich ruft heimlich Mitleid hervor. Die Architekten haben wieder einmal so getan, als könne man neue

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