Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
liegen und Milch trinken‹ – sechs Monate lang.«
Die paar Zeilen machen uns klar, wie hoch der Preis ist, der für eine literarische Nobilitierung des Wahns zu zahlen ist. Sie machen außerdem deutlich, wie heftig der innere Ungehorsam gegen die Normen des Sprechens eingestellt ist und wie sehr wir uns Aufschlüsse über diese Normalität aus der Nicht-Normalität versprechen. Die wahnhafte Normzertrümmerung ist ein authentischer Akt, authentischer noch als das »normale« Sprechen; die Normzertrümmerung tritt momentweise und mit großer Autorität an den Sprecher heran. Als größte Prämie erscheint die Verheißung, es gebe in uns selbst eine sonst verhüllte Wahrheit, an die der »Gesunde« nicht herankommt. Psychoanalytisch gesprochen (nach Lacan): Das Unbewusste ist die Rede des (fremden) Anderen und des (anderen) Fremden in uns, die wir mit konventionellen Mitteln nicht verstehen. Paradox ist, dass ausgerechnet das pathologische Schreiben ein Ausweg des Bewusstseins ist, das mit einem zu starken Andrang verinnerlichter Normen fertig werden will. Populärer ausgedrückt: Verrücktheit ist eine Reaktion auf eine Überdosis Normalität. Das Paradox zeigt die eigenartige Spaltung unserer Spätkultur, dass wir die Verletzung von Kunstnormen nur dann schätzen, wenn sie von unverletzten Individuen ausgeht; das heißt, wenn uns der Rückzug in die Norm jederzeit offensteht. Die Norm geht gestärkt aus ihrer Verletzung hervor. Auf die Diskriminierung der Norm folgt die wohlige Wiederaufnahme des Normenverletzers in der Normenwärme. Die Norm zeigt, indem sie verletzt wurde, gerade dadurch ihre normative Kraft.
In der Gegend, in der ich wohne, überquert am Frühabend zuweilen eine verwirrte Frau die um diese Zeit verlassenen Betonhöfe der Universität. Die Frau spricht laut mit sich und gleichzeitig mit stumm bleibenden Fremden, ohne je einen einzigen verständlichen Satz herauszubringen. Die Frau ist (so heißt es im Jargon der Sozialtechnologie) vom System »ausgesteuert«; das bedeutet, sie hat keine Einkünfte, keine Unterstützungen, keine Kontakte, keine Krankenversicherung und also auch kein Geld für Medikamente. Sie ist äußerlich sehr heruntergekommen, vermutlich ist sie obdachlos. Zuweilen trägt sie unversehrte Kleidung, so dass man denkt: Es gibt offenbar unbekannte Helfer, die sie mit Kleidung und Nahrungsmitteln dann und wann versorgen. Gelegentlich hebt sie den rechten Zeigefinger, bleibt irgend-wo im Gelände stehen und sagt mit stark erregter Stimme:
Ksch ksch ksch ksch jajajajaja in die esse in die esse kiss kiss in die esse ksch ksch schl schl schl ö ö ö ö ö ö du Schwein o o o o o Pongst Ongst Ongst Brongst Ongst Ongst ö ö ö ö ö ö schl schl schl ean ean ö ö ean ö ksch ö ö ö …
Wenn man sehr viel Zeit hätte und der Frau lange zuhören könnte, würde man die sprachlichen Herkünfte einzelner Wortstummel in ihrer Rede vielleicht rekonstruieren können. Vermutlich ist von Angst die Rede, wenn sie Ongst sagt, und vermutlich meint sie Brust, wenn sie Brongst sagt. Das heißt, man könnte eine Ahnung davon bekommen, was die Frau sagen will, welche Erlebnisse und Erinnerungen ihrer Rede beigemischt sind. Die häufigen o o o o-Ausstoßungen sind (vermutlich) ein Reflex auf ein nicht verschwindendes Entsetzen. Wobei ich mein Unbehagen über diese Art der Rekonstruktion nicht verschweigen will, weil diese sich auf einen gemeinschaftlich geteilten Code des Empfindens bezieht, den ein Mensch mit zerstörter Rede vermutlich nicht (mehr) teilen kann. Ich bin überzeugt, dass die Frau Literatur von sich gibt, eine enthemmte Traumliteratur voller taumelnder und abstürzender Worte, erregt und von tödlicher Kälte, fern aller »ordentlichen« Literatur und gleichzeitig ganz nah bei ihr. Ich will sagen, dass wir die Norm der Syntax nur im Krankheitsfall verlassen – und dann nicht freiwillig. Die dauerhaft kranke Frau hat nicht (wie Virginia Woolf) das Privileg, nach einer Irritation wieder in die Normverfassung der Sprache zurückkehren zu dürfen; wer sie einmal hat sprechen hören, nimmt Abstand von der Idee, die Grammatik im Dienst der Literatur verändern zu wollen.
Aber selbst eine zerstörte, sich der bloßen Lautebene annähernde Sprache verweist auf einen Mangel (und damit auf einen Wunsch) der anderen, sich in Regeln bewegenden Sprecher. Wir müssen nicht gestört sein, um die Fremdheit gegenüber unserer eigenen Innenwelt (oder der Innenwelt uns nahestehender Personen) zu
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