Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
ganze Zeit eigentlich etwas anderes sagen wollen und dass sich dieses Andere sich uns entzieht und wir eigentlich nur ersatzweise sprechen. Nur die Heftigkeit des ersatzweisen Sprechens verbirgt, dass es ein Ersatz ist, die zweit- oder drittbeste Lösung. Das heißt, wir erinnern uns innerhalb der fließenden Rede an eine andere Rede, die uns schon bei früheren Gelegenheiten versagt geblieben ist; sie hat uns lediglich den Eindruck ihrer Unterdrücktheit hinterlassen. Wir haben die Unterdrückung angenommen, weil wir sonst gar nicht reden könnten.
Von Ilse Aichinger gibt es eine schöne Erzählung mit dem Titel »Meine Sprache und ich«. Es liegt ihr die Idee zugrunde, ein Ich könne mit seiner eigenen inneren Sprache Kontakt aufnehmen. Die Erzählerin weiß von der Existenz dieser Sprache, obgleich die Meta-Sprache selbst nicht spricht. Die Erzählerin ist darüber nicht verstimmt, sie nimmt das Schweigen hin. Im Text heißt es lapidar: »Meine Sprache und ich, wir reden nicht miteinander, wir haben uns nichts zu sagen.« Und: »Sie dreht sich, sie antwortet nicht, sie lässt uns geschehen.« Eine Seite weiter lesen wir: »Wenn meine Sprache die Stimme verliert, hat sie einen Grund mehr, das Gespräch mit mir sein zu lassen. Während ich sie noch wispernd und hustend mit Fragen und Angeboten überhäufe.« Gegen Ende des Textes ist die Erzählerin argwöhnisch geworden: »Ich habe sie im Verdacht, dass ihr nur an sich selbst liegt. Oder nichts an sich selbst. Oder beides, das trifft sich.« Erst ganz am Schluss der Erzählung schiebt sich über den Argwohn eine gewisse Resignation. »Man wird mit der Zeit nichts mehr von ihr wollen«, heißt es. »Und ich werde das meinige dazutun. Ich werde hier und dort einen Satz einflechten, der sie unverdächtig macht (…)«
Vermutlich hätten wir nicht verstanden, was Ilse Aichingers innere Sprache gesagt hätte. Die Exklusivität des Verstehens zwischen einem Sprecher und seiner inneren Sprache hat Ludwig Wittgenstein eine »Privatsprache« genannt. Charakteristisch ist für sie nicht, dass sie nur von einem einzigen Sprecher gesprochen wird, sondern dass jeder andere Sprachteilnehmer sie nicht verstehen kann; sie nimmt Bezug auf etwas, »wovon nur der Sprechende wissen kann«.
So friedlich, respektvoll, fast einvernehmlich wie Ilse Aichinger stellen sich andere Autoren die Koexistenz mit ihrer nicht veröffentlichten Sprache nicht vor. Wenn ich meinen Überblick nicht überschätze, sind vor allem drei Phantasien über den Zugang zu inneren Sprachen im Schwange: 1. Durch den Gebrauch von Drogen; von Hans Fallada bis Aldous Huxley liegen Berichte über die Bild- und Sprachräusche derjenigen vor, die sich mit Drogen in andere Ausdruckswelten versetzt haben. 2. Durch kalkulierte Sprachexperimente. In seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen aus dem Jahre 1963 formulierte Helmut Heißenbüttel hochgemut: »Die neuen Prinzipien der Literatur des 20. Jahrhunderts sind antigrammatischer Natur.« Die inzwischen eingetretene Zukunft sieht anders aus. Selbst durch erhebliche grammatische Verschiebungen schimmert das Muster der identifizierenden Sprache hindurch, das heißt die konventionelle Struktur von Subjekt, Prädikat, Objekt. 3. Am problematischsten ist der dritte Weg, die Spracherzeugung mit Hilfe von psychotischen Erregungen und anderen Wahnzuständen. Delikat ist dieser Weg deswegen, weil er nicht frei verfügbar ist und in seinen Folgen unübersichtlich und nicht ganz gefahrlos.
Zur Illustration lese ich Ihnen ein paar Zeilen aus einem Brief vor, den Virginia Woolf am 22. Juni 1930 an eine befreundete Autorin geschrieben hat: »Als Erfahrung ist Wahnsinn großartig, das kann ich dir versichern, und nichts, worüber man die Nase rümpfen sollte; und in seiner Lava finde ich noch immer die meisten der Dinge, über die ich schreibe. Er schleudert alles Geformte, Endgültige, mit Macht aus einem heraus, nicht nur in kleinen Rinnsalen, wie die Normalität es tut. Und die sechs Monate – nicht drei –, die ich im Bett lag, lehrten mich eine Menge über das, was man das eigene Ich nennt. Tatsächlich war ich fast verkrüppelt, als ich wieder in die Welt zurückkehrte, unfähig, vor lauter Horror auch nur einen Fuß zu bewegen, nach dieser Disziplin. Denk nur – nicht einen Augenblick Freiheit von der Disziplin der Ärzte – absolut seltsame – konventionelle Männer; ›Sie dürfen das nicht lesen‹ und ›Sie dürfen kein Wort schreiben‹ und ›Sie müssen still
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