Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
machen. Auch ich verbringe wie wir alle erhebliche Lebenszeit im »Junk Space« (Rem Koolhaas), das heißt in den verworrenen Räumlichkeiten heutiger Großmärkte, Shopping-Malls, Fußgängerzonen, Flughäfen, Erlebnisparks und so weiter. Es ist eine Welt aus Zufällen und Zumutungen, zu denen mir jeder persönliche Text fehlt. Vermutlich ist die Textverlassenheit der Grund, warum ich diese Umgebungen sanft verhöhne oder höhnend beschreibe. Es ist schon eine Weile her, dass ich diese Sätze schrieb: »Was wir brauchen, ist eine Theorie der Verborgenheit. Der Grundgedanke könnte sein, dass das Subjekt die Gesellschaft beobachten darf, diese aber nicht das Subjekt.« Und ich habe diese kleine Erzählung hinzugefügt: »Danach bat ich Gesa, mir für eine Weile ihre Schuhe zu geben. Sie zog sie aus und gab sie mir. Ich zeichnete mit dem Kugelschreiber die Konturen der Abnutzung auf den Sohlen ihrer Schuhe nach. Der am meisten abgenutzte Fleck (ich habe ihn stark schraffiert) befand sich in der Mitte der Sohlen. Eines Tages werden die Strümpfe aus diesen Flecken herausschauen. Gesa sagt, sie will die Schuhe bis zu diesem Zeitpunkt tragen und dann zwei Objekte aus ihnen machen (…) Ich weiß nicht, wie man diese Kunst nennen kann. Am besten wird sein, sie trägt keinen Namen. Denn mit dem Namen ist auch gleich ein falsches Bild von ihr auf der Welt, mit dem falschen Bild kommt das falsche Staunen, und mit dem falschen Staunen ist auch das Publikum wieder da. Dabei geht es nur darum, sich ein paar Bereiche zu schaffen, die vor jedem Zugriff sicher sind. Es könnte die empfindlichste Kunst (Schönheit) werden, die es je gegeben hat. Es könnte dabei eine neue Verheimlichung des Menschen herauskommen; aber haben wir die nicht auch nötig?«
Das soll heißen: Im Zeichen der herrschenden Schönheitsvergessenheit muss jeder, der Schönheit immer noch will, seine eigenen Schönheitsobjekte auf die Welt bringen. Diese Schönheit ist überall zugänglich, sie kostet nichts, sie ist ungeeignet für Verwertung und Kommerz, sie kann nicht modern werden, sie ist durch Abwegigkeit vor allgemeinem Interesse geschützt, sie schließt niemanden aus, weil sie zu jedem spricht. Ich erzähle von einem Beispiel. Dieser Tage habe ich, inmitten von Junk Space, einen Geldbeutel gefunden. Er lag im Freien, halb zugedeckt von feuchten Blättern, Papierresten und Abfall. Wahrscheinlich hat ihn ein Dieb schnell geleert und dann weggeworfen. Schon der Fundort hat mich bewegt. Die Dinge überleben an ungenannten, unnennbaren, vielleicht unsagbaren, auf jeden Fall unsäglichen Orten. Sie werden (vielleicht) kurz vor ihrem endgültigen Verschwinden bemerkt und erhellen damit den Bruchbudencharakter des modernen Lebens. Ihre Schönheit ist weltabweisend und dadurch weltverstärkend. Ich hob den Geldbeutel auf und öffnete ihn. Plötzlich schaute mich hinter einer Klarsichtfolie das Foto einer Frau an. Ich hatte sofort das Gefühl: Sie ist tot und ich bin der letzte, der ihr Bild anschaut. Ich legte den Geldbeutel auf meine flache Hand und sah, dass er mir das Zittern kurz vor seiner Vernichtung zeigte. Moderne, privat entdeckte Schönheit hat viel mit modernem, privat erlittenem Tod zu tun. Wir Menschen (viele von uns) und die Dinge sterben nicht ordentlich, wir kommen um in den Umständen, wir werden (viele von uns) zermalmt, zerdrückt, zerquetscht, zerrieben. Schön an der Entdeckung der zerfetzten Dinge ist die Empfindung der Zerfetztheit des eigenen Denkens. Durch diese Parallelität gewinnen wir schöne Einblicke in die Behelfsmäßigkeit allen Lebens. Ich bezeugte das brüchige Ding (der Geldbeutel), das brüchige Ding bezeugte mich. Das Ding (der Geldbeutel) lag auf meiner Hand und gab den Raum frei für die Position der Schönheit. Aus Kants interesselosem Wohlgefallen ist in der Moderne eine interessierte Verbergung geworden.
Der Ungehorsam gegen die Tatsachen
An einem schönen Winterabend spazierte ich in Berlin rund um den Savigny-Platz. In etwa einer halben Stunde hatte ich in einer der wundervollen Buchhandlungen, die es dort gibt, eine Lesung. Ich schaute in die Auslagen der Geschäfte, traf zufällig einen befreundeten Schriftsteller, verspürte Hunger. Ein »richtiges« Abendessen wollte ich vor der Lesung nicht zu mir nehmen, aber eine kleine Beruhigung des Hungergefühls sollte schon sein. Also kaufte ich mir eine Bratwurst mit Brötchen und setzte meinen kleinen Spaziergang fort. Natürlich betrachtete ich vor allem die
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