Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
schrieb: »Meine Bilder sollen aussehen, als sei ein menschliches Wesen durch sie hindurchgezogen und hätte eine Spur von menschlicher Anwesenheit und die Erinnerung an vergangene Ereignisse zurückgelassen, so wie eine Schnecke ihren Schleim hinter sich lässt (…)«
Auch in diesem Text spüren wir Bacons Lust an der rhetorischen Verzerrung. Das New Yorker Statement ist entwaffnend ehrlich, gleichzeitig pompös nichtssagend. Man muss hinnehmen, dass Bacon selbst erklärungslos war. Insofern sind sein Leben und sein Werk ein Zwillingsrätsel, zwei unabhängig voneinander existierende Fragen, die sich mehr und mehr in Mysterien verwandelt haben. Es bleibt die Verwunderung darüber, warum ein Künstler, der sich durch und durch nichtig fühlte, ein derartig gequältes Nichts sein musste. Allerdings ging aus dieser Qual das Staunen über die Schöpfung hervor. Der phantastische Ertrag von Bacons Anstrengung ist, dass durch die Qual hindurch die Lust des Menschen durchscheint, ein Teil der göttlichen Verschwendung zu werden.
Herumstehen, Herumsitzen, Herumliegen
Die Idyllen des Georges Seurat
Auf vielen seiner Bilder zeigt uns Georges Seurat unverbunden beieinandersitzende, -liegende oder -stehende Menschengruppen, die gemeinsam in eine Richtung schauen. Als Bildbetrachter wissen wir nicht, ob die Leute einander kennen und ob sie bestimmte Interessen miteinander teilen oder nicht. Die Bildbetrachter sehen auch nicht, was die abgebildeten Figuren sehen. Das Interesse auslösende Ereignis befindet sich außerhalb der Bilder. Wir wissen nicht einmal, ob es ein solches Ereignis überhaupt gibt. Es kann auch Zufall sein, dass die Menschen gemeinsam irgendwohin blicken, vielleicht aus Langeweile, vielleicht aus müßiggängerischen Erwägungen, vielleicht, weil sie nur ruhebedürftig sind oder weil es endlich Sonntag ist und die Menschen zugeben dürfen, dass sie nicht wissen, wie man am besten seine Zeit totschlägt und dass gerade darin die Poesie verschwendeter Zeit (unerkennbar für alle) verborgen ist.
Weil alle diese Fragen sich zwar stellen, aber nicht beantwortet werden können, geht von Seurats Bildern eine sanfte Unruhe aus. Man kann auch sagen: Seurats Bilder erwecken eine Art Misstrauen; man glaubt den Leuten die ostentativ ausgestellte Ruhe nicht. Es ist, als hätte jemand, der ein Foto machen will, zu den Menschen gesagt: Jetzt setzt euch mal entspannt ins Gras und denkt an nichts. Genau das kann kein Mensch: sich entspannt ins Gras setzen und an nichts denken. Ganz im Gegenteil. Gerade dann, wenn wir uns ausruhen wollen, denken wir besonders heftig an die uns bewegenden privaten oder halb privaten Angelegenheiten. Apropos Gras. Seurat zeigt uns die Menschen nicht in Städten, nicht an ihrem Arbeitsplatz und nicht in ihrer häuslichen Umgebung. Wir finden sie fast immer in parkähnlichen Anlagen, oft auch in stadtnahen Wäldern, die man heute »Naherholungsgebiete« (oder ähnlich) nennt. Manchmal ist ein kleiner See dabei oder ein Provinzhafen.
Die Menschen kommen hierher, um die »gewöhnliche« Welt, in der sie sonst leben, wenigstens für einen halben Tag nicht sehen zu müssen. Insofern ist die Idylle in der Halbnatur ein deutlicher Hinweis auf das Nichtgemalte: die beginnende Industrialisierung, die schon früh erkannte Ödnis der Städte, die Enge der Nachbarschaft, das Eingezwängtsein in den Wohnungen, das ungünstige Sozialklima zu dicht beieinanderlebender Menschen. Das sind Motive, die dem Bildbetrachter zwanglos-zwanghaft einfallen müssen, gerade weil sie nicht abgebildet sind. Wir sind jetzt überraschend schnell in das mögliche innere Zentrum der Bilder vorgestoßen: Das Nichtabgebildete war das vorerst nicht adäquat Darstellbare. Dazu bedurfte es der fortgeschrittenen Moderne, in der wir uns (auf diesen Bildern) noch nicht befinden.
Die Leute auf den Bildern sind mit nichts beschäftigt, sie reden nicht miteinander, sie zeigen sich nichts, sie spielen keine Spiele, sie sinnieren vor sich hin. Eine Freizeitindustrie und also ein Freizeitproblem existieren offenkundig noch nicht. Es gibt noch nicht einmal das Wort Freizeit; die Menschen ruhen sich aus – das reicht. Die Gründe, warum sie das tun, will man noch nicht so genau wissen. Ein Umherschauen, das ergebnislos bleiben darf, ist innerlich. Seurat führt uns, indem er reglose Betrachter zeigt, das verdichtete Sehen selber vor. Während sich die Menschen die Dinge anschauen, werden sie selber dinghaft und lassen sich wie
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