Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
und haben sich dann zu einem ferneren Anschauen zurückgezogen. Insofern sind die Bilder der ruhigen Betrachter und der von ihnen zuvor (oder gleichzeitig) betrachteten Weltausschnitte nicht nur aufeinander bezogen, sondern sie gehören funktional zusammen, sie sind die rechte und die linke Hälfte eines einzigen großen zusammenhängenden Bildes. Tatsächlich sind die Themen-Bilder genauso starr und reglos wie die Menschen-Abbilder. Dazu passt, dass auf den Themen-Bildern keine Menschen (oder nur sehr wenige) zu sehen sind und dass diese wenigen genauso statisch erscheinen wie die Objekte ringsum. Dieser Eindruck geht zurück auf die von Seurat entwickelte Punkte-Technik. Es könnte sein, dass erst diese Punkte-Technik aus Seurat einen Neo-Impressionisten gemacht hat – und zwar insofern, weil nur durch die Punkte-Technik eine organische Abwendung vom konventionellen Impressionismus der (sagen wir mal so:) Technik der schaukelnden Striche möglich war. Denn die schaukelnden Striche von Monet, Renoir, van Gogh und anderen haben den Eindruck der Weltbeweglichkeit hervorgerufen, den Seurat so nicht übernehmen wollte.
Denn: »Das Leben lebt nicht« (Anton Kuh) – das merken wir oft gerade dann, wenn es entfesselt zu leben scheint. Wie (zum Beispiel) auf Seurats Zirkus- und Rummelplatzbildern. Auch diese Bilder sind thematisch aufgeteilt. Sie zeigen uns einerseits die bei Seurat notorisch erstarrten Betrachter, die auf diesen Bildern die Zuschauer sind. Reizvoll ist, dass im Zirkus und auf dem Rummelplatz das ruhige Betrachten gleichzeitig die einzig geforderte Funktion der Besucher ist. Nur ein stillgestellter Blick kann einem beweglichen Objekt angemessen folgen. Aber auch die Bewegtheit der Artisten und Tiere ist ein Schein, denn sie wirkt starr, gleichsam gefroren, ähnlich wie der Statuencharakter der Zuschauer. Dass wir auch die Beweglichkeit der Zirkuspferde und Reiter als starr empfinden, geht auf besondere Weise auf die Punkte-Technik zurück; nur mit dieser war es Seurat möglich, den abgezirkelten Ritus einer wiederkehrenden Dressur zu zeigen.
Besonders nahe fühle ich mich dem Bild »Parade vor dem Zirkus« aus dem Jahr 1888. Es zeigt eine Situation, die ich aus meiner Nachkriegsjugend gut kenne. Als ich sechzehn, siebzehn, achtzehn Jahre alt war, stand ich oft als Zuschauer vor solchen zirkusähnlichen Schaubuden. Rechts war (wie bei Seurat) eine Art Conférencier postiert, der die zufällig herumstehenden Rummelplatz-Besucher mit kurzen Darbietungen der Künstler zum Eintritt in das ärmliche Zelt animierte. Schon das Frühabendlicht war sehr schön. Ein paar Lampen beleuchteten die dunstige, neblige Bühne. Wie auf dem Bild von Seurat traten häufig drei oder vier Musiker auf, manchmal auch kaum bekleidete Stripteasetänzerinnen oder zwei Komiker, die mit knappen Slapstick-Nummern auf ihre Programme im Zelt aufmerksam machten. Die Stimmung des Bildes gibt präzise die Atmosphäre auf den Rummelplätzen wieder: erstarrte Künstler in erschrockener Zeit.
Ich kann heute nicht mehr sagen, ob ich tatsächlich den Darbietungen auf der leicht erhöhten Bretterbühne gefolgt bin. Dazu waren die Show-Nummern zu belanglos, man kann auch sagen: sie waren ergreifend schlecht. Jedermann konnte sehen, dass die Künstler ihr Metier nicht beherrschten; es waren ratlose Nachkriegsexistenzen, die sich mal eben als Jux-Nummer versuchten. Ich bilde mir heute ein, dass ich diese Darbietungen wegen ihrer eingestandenen Nichtigkeit geschätzt habe. Sie waren für mich frühe Abbilder einer kommenden Egalität, deren Vorboten sich überall zeigten. Die Witze der Spaßmacher waren erschütternd abgestanden, die Musik der Musiker war von abgrundtiefer Unmusikalität, die Entkleidungen der Stripteasefrauen waren von erhabener Lächerlichkeit, über die trotzdem niemand lachte, weil die Zuschauer gleichzeitig von der durchdringenden Anstrengung der Künstler beeindruckt waren. Es zeigte sich, mit anderen Worten, die wenige Jahre später einsetzende Massenunterhaltung des Fernsehens.
Genau diesen Ernst erkenne ich auf dem Bild von Seurat wieder. Obwohl das Geschehen lustig gemeint ist, ist niemand lustig zumute. Obwohl die Nummern irgendwelche Alltagsgespenster vertreiben sollen, kehren diese Gespenster durch ihre versuchte Vertreibung erst richtig zurück. Die Leute sehen sich von Trostlosigkeit erfasst. Sonderbar ist, dass genau in dieser Trostlosigkeit die Entspannung verborgen ist. Man kann sich nicht genügend darüber
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