Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
Eisengitter; die Annahme hilft mir, einen Zipfel des Bacon’schen Denkens fassen zu können, seine Vorstellung nämlich, dass jeder von uns in seinem je eigenen Kosmos eingeschlossen ist. Noch weiter im Hintergrund des Mannes sehen wir die Begrenzung des Raums, die ebenfalls nicht eindeutig zu bestimmen ist; in der Bildmitte ähnelt sie einer Backsteinmauer, rechts und links davon erkennen wir nach unten beziehungsweise nach oben verlaufende dunkle Linien, die vielleicht Stoffbahnen sind, aber auch Bretter, Wellblech oder Kartonteile sein können. Diese Details sind für die Wirkung des Bildes insgesamt unverzichtbar, aber sie sind nicht wirklich zentral. Das einzig zählende, sozusagen durchschlagende Detail habe ich bis jetzt nicht genannt, obgleich von ihm die unheimliche Irritation des Bildes ausgeht. Ich meine das Gebiss des Mannes. Der Mund ist geöffnet, wir sehen zwei Zahnreihen, die obere nur zur Hälfte. Wir argwöhnen, dass dieses Gebiss nicht zu einem Menschen gehören kann, sondern – sagen wir – zu einem Tiger, zu einem Affen, vielleicht auch zu einem Ungeheuer, dessen Name uns nicht bekannt ist.
Das Gebiss ist der Dimension des menschlichen Gesichts nicht angemessen, es ist dafür zu groß und – vor allem – es ist zu aggressiv. Wir haben das Empfinden: Es ist ein Raubtiergebiss, und der Mann, der uns dieses Gebiss zeigt, ist von einer geradezu bestialischen Fröhlichkeit, die uns immer schon erschreckt hat, wenn wir sie an Menschen haben bemerken müssen. Für diese Zumutungen des Menschlichen hatte Bacon ein empfängliches Gespür. Man kann sagen: Seine Malerei bezieht ihren Reiz (und ihr Grauen) aus dem Zusammenstoß von Nähe und Ekel. Oder, genauer: aus der unheimlichen Verwandlung von Nähe in Ekel, von Abstoßung durch Vertrautheit. Der Mann auf dem Bild ist ein schätzenswerter, wahrscheinlich liebenswerter Mensch, aber wenn er lacht oder vergnügt ist, gefriert sein Gesicht zu einer Maske des Schreckens. Ein Lieblingsausspruch von Bacon lautet: »Die Wirklichkeit hinterlässt ihr Gespenst.« Genau darum handelt es sich: Die Wirklichkeit hinterlässt ihr Gespenst – und Bacon hat das Gespenst gemalt, obgleich es unsichtbar ist wie alle Gespenster, weil Gespenster nur in unserer Empfindung existieren. Das Flüchtige des gespenstischen Eindrucks in unserem Bewusstsein erreicht Bacon mit seiner Wischtechnik, die er im Laufe der Jahre immer mehr vervollkommnet hat. Mit Hilfe der verwischenden Malerei erscheinen die Gesichter für Augenblicke verrutscht, aufgelöst, zerfließend, formlos, verletzt, von fremder Gewalt verstümmelt. Weil Bacon das fliehend Unbestimmte dennoch gegenständlich hat darstellen können, und zwar präzis, kann man ihn auch einen realistischen Maler nennen, wogegen er sich allerdings immer wieder gewehrt hat. Bacon hat Erscheinungsmomente dessen fixiert, was seinen Ursprung in der psychischen Realität des Menschen hat. Man kann auch sagen: Bacon hat Abbildungen von bilderlosen Einbildungen gemalt.
Gewiss sind nicht Bacons Technik und nicht seine Intention »realistisch«, sondern nur sein Drang, den im menschlichen Bewusstsein real existierenden Bildern eine Gestalt zu geben. Er bildet psychische Abläufe ab, für die wir keine Worte haben und auch keine haben können, weil die Menschen selbst die Opfer dieser Verwandlungen sind und weil sie selbst ihre Opferung – in der Regel – nicht ausdrücken können. Das menschliche Gesicht ist der unerbittliche Statthalter einer peinigenden Selbstnähe. Unser Gesicht ist von Anfang an endgültig; es exponiert uns gegen unseren Willen. Das Gesicht ist die schmerzhaft endgültige Antwort auf unseren nie erfüllten Wunsch, ein anderer zu werden. Das Begehren nach einer Auswechslung unseres Ichs wird immer wieder von unserem Gesicht ausgebremst, verhöhnt, zunichtegemacht. Der Widerspruch des Subjekts haust in den Details des Körpers, er entweicht in die Einzelheiten des Gesichts, vulgo: in die Gestalt der Nase, des Munds, der Ohren, des Gebisses. Die Organe überleben den Wunsch nach ihrer Auswechslung nicht ohne psychische Beschädigung dessen, der sie wünscht. Diese Beschädigungen zeigt Bacon. Momentweise glauben wir, seine Bilder betrachtend, wir könnten eine verborgene Dynamik endlich anschauen – und dann auch unsere Melancholie darüber besser begreifen, dass wir uns nicht selbst schaffen können.
Die häufige Wiederkehr des verunstalteten Gesichts als Motiv wirft die Frage auf, ob es zwischen dem deformierten
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