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Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Titel: Idyllen in der Halbnatur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Gegenstände betrachten. Ein interesseloses Wohlgefallen am bloßen In-der-Zeit-Sein können wir heute kaum noch nachvollziehen. Insofern neigen wir Heutigen dazu, ihnen geläufige Inhalte (beziehungsweise: deren frisches Eintreten in Zeit und Geschichte) zu unterlegen.
    Es bietet sich zum Beispiel an, von der eben aufsteigenden Fremdheit zwischen den Menschen zu sprechen. Tatsächlich eignen sich Seurats Bilder für diese These ganz ausgezeichnet. Man könnte behaupten: Mit Seurat dringt die Fremdheit in den Impressionismus ein – die Distanz, die Differenz, das Erschrecken. Ich könnte weiter behaupten: Die damals neu aufsteigende Fremdheit zieht eine künstliche Selbstversunkenheit der Subjekte nach sich. Darin wendet sich das Subjekt von der Außenerscheinung der Dinge ab – und sich selber zu. Mehr noch: Der einzelne wendet sich von der Zeit und der Geschichte überhaupt ab und beschließt, ein einzelner erst zu werden. An der Irritation der Individuen auf Seurats Bildern ist zu sehen, wie problematisch diese erzwungene Veränderung empfunden wird.
    Sogar die Paare sind zwar dicht beieinander, sie sind aber ebenso sichtbar getrennt durch ihre autonomen Blickprogramme. Wieder wissen wir nicht: Ist das leidenschaftliche Sehen eine Folge des plötzlichen Alleinseins zu zweit, oder entsteht das Alleinsein durch das vom Leben nicht mehr unterbrochene Sehen? Was allein gut erkennbar wird, ist die zunehmende Landschaftsversunkenheit der Menschen. Die Leute verähnlichen sich beim Sehen mit der sie umgebenden Natur – und machen es uns damit endgültig unmöglich, zutreffende Aussagen über die Metaphysik ihrer Beweggründe zu machen. Seurats Bilder vermitteln nicht den Eindruck, dass uns die Welt vertraut ist. In dieser Verschiebung (hin zu einem Ausdruck, der dann Neo-Impressionismus genannt werden wird) liegt Seurats Hauptakzent gegen den ihm vorausgehenden Konventions-Impressionismus. Wer sich in Seurats Bilder vertieft, wird die künstlerischen Hauptdarsteller des Impressionismus, das heißt die Bilder etwa von Monet, Sisley oder Pissarro, plötzlich als zu plüschig empfinden.
    Hat man nicht immer gewusst, dass die Schönheit eines Bildes von Monet (zum Beispiel) – trotz der Auflösung der Kontur – durch Irritationsabwesenheit erkauft ist? Haben wir nicht immer still, aber nachdrücklich geargwöhnt, dass die geschlossene Harmonie bei Degas ein gemalter Schwindel ist? Den wir uns gern verkaufen lassen, weil er, wie viele andere Schwindeleien auch, eben auch schön ist? Seurat, der Impressionist, nimmt innerhalb des Impressionismus gegen den Impressionismus Stellung. Und das nur mit einer einzigen reflexiven Verschiebung: Er zeigt uns nicht das schön gedachte (vorgestellte) Bild, er zeigt uns den Anblick derer, die beim Schönheit-Betrachten irritiert sind von etwas anderem, was nicht im Bild ist, aber den Habitus der Menschen bestimmt.
    Denn die Dinge reglos und lange anschauen heißt, sich ihnen nicht ausliefern wollen, ihre Nähe aber ertragen können. Bis heute ist unklar, ob es eine Ökonomie des Sehens gibt oder nicht, das heißt eine Klärung der Frage, ob wir zuviel oder zuwenig sehen (müssen). Meine Vermutung ist: Wir sehen immer zuviel. Wir können das Sehen nicht anhalten, nicht ausschalten, nicht zerstreuen, nicht beschwichtigen. Die Figuren bei Seurat wirken, als ob sie sich immer gerade vom Zuviel-Sehen erholen, aber selbst beim Ausruhen sehen sie schon wieder: zuviel. Denn die versuchte Trennung von den Dingen (beim Zuviel-Sehen) gelingt nicht. Während des Trennungsversuchs wird die Kraft zur Trennung geringer. Und schon bald stellt sich heraus, dass der Wunsch nach Trennung von den Gegenständen eine Illusion ist. Noch bevor Säuglinge richtig sehen können, verschmelzen sie taktil mit der Dingwelt. Säuglinge fassen alles an, was sich in ihrer Nähe befindet, sie stecken sich die Gegenstände sogar in den Mund, wahllos, ohne sie ein einziges Mal anzuschauen. In diesem Zugreifen-Müssen zeigt sich unser späteres Geschick. Distanz ist ein Traum. Diesen Traum zeigt uns – ganz ohne nachträgliche Vergeltung – Seurat.
    Deswegen komme ich nicht los von der Phantasie, dass Seurats Themenbilder (also: die Anblicke von Parks, Flussufern, Stränden, Meeresklippen, Brücken, Hafenanlagen, Zirkuskunststücken, Kanälen) uns genau das zeigen, was Seurats Betrachter auf seinen anderen, gegenstandsfreien Bildern sehen. Die Leute haben sich vorher in der Nähe der gegenständlichen Welt aufgehalten

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