Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
Konflikts erkennen. Einerseits wollte Bacon die körperhafte Wucht und Unmittelbarkeit eines menschlichen Gesichts neu zeigen, andererseits durfte diese Aufgabe nicht auf bloß nachschaffende Weise (die Bacon »dokumentarisch« nennt) erreicht werden. Wie viele andere Maler tat Bacon so, als hätte er es stets nur mit formalen, ästhetischen oder handwerklichen Problemen zu tun; als hätte er nicht gewusst, dass es für seine Themen – das hässliche Gesicht, der monströse Körper, die Versehrtheit des Menschen – die Referenz des Leibes gibt und dass die Kunst von dieser Ableitung der Referenz niemals loskommt. Man kann auch sagen: Bacon spielte mit seinen (nicht nur körperlichen) Verletzungen, und indem er dieses Spiel vor unseren Augen spielte, konfrontiert er die Betrachter mit ihren je eigenen Verletzungen. Auf diese Weise entsteht der (durchaus konventionelle) Zusammenhang des einzelnen mit dem Allgemeinen, des privaten Schmerzes mit dem massenhaft verbreiteten Leid.
Es gibt eine unspektakuläre Installation von Joseph Beuys mit dem Titel: »Zeige deine Wunde«. Dieser Titel könnte als Überschrift über Bacons Gesamtwerk stehen. Natürlich haben Beuys und Bacon außer dem Gestus der Enthüllung nichts gemeinsam. Die Installation von Beuys zeigt zwei nebeneinander geschobene Krankenhausbetten. Sie sind unbelegt, aber ihr Anblick genügt, sich das menschliche Körpergrauen auszumalen. Bacon hingegen überlässt nichts unserer Vorstellung; er malt alle Verheerungen, auch solche, die es nicht gibt. Die bei Beuys ausgeblendete Körperverletzung tritt bei Bacon ohne jede Vermittlung sofort ins Bild. Bacon hatte keine Furcht, seine Malerei dem Grauen auszuliefern. Er sagte einmal: »Ich hoffe, dass meine Bilder wie ein Spiegelbild der Realität oder eine Nachempfindung der Realität aussehen. Aber eigentlich bedeutet doch beinahe jede Realität Schmerz. Wenn ich sage, dass Realität Schmerz ist, dann heißt das, dass ich wirklich versuche, die Realität aufzuschnappen, beim Malen, beim Anfertigen eines Bildes.«
Der Titel »Zeige deine Wunde« erinnert daran, dass alle Kunst – trotz ihres Versagens als Medium der Wiedererkennung – gleichzeitig transzendent realistisch ist, weil sie, als Menschenwerk, gar nicht anders kann. Das soll heißen: Kunstwerke machen uns bewusst, dass hinter unserem mimetischen Von-etwas-Sprechen immer nur ein ungenaues Wissen steckt. Das Schwerverständliche des Menschen ist das Schwerverständliche der Kunst. Zwei Provinzen des Mangels, die Menschen und ihre Kunst, verschmelzen ineinander zu einer Reflexionsmaschine: Wellenartig sondert sich die Ungelöstheit des Menschen von diesen ab und taucht in der Kunst als gemaltes Zeichen wieder auf. Jedes brauchbare Bild schlägt uns momentweise alles Vorverstandene aus der Hand, es leert in Sekundenschnelle unseren Kopf, es macht uns – wieder – ahnungslos. Kein Bild von Bacon muss sofort verstanden werden, es muss nicht einmal überhaupt verstanden werden. Die akzeptierte Ahnungslosigkeit hat Bacon sowohl zu einem visionären Einfaltspinsel als auch zu einem Berserker der Progression gemacht. Bacon fand sein Leben – das sind seine eigenen Worte – »lächerlich und grässlich«. Zu seinem Biografen Michael Peppiatt sagte er: »Ich bin möglicherweise die schlichteste Person, die Sie kennen.« Diese »schlichte Person« war mit dem täglichen Risiko des Scheiterns auf quälende Weise vertraut. Zu David Sylvester sagte er einmal: »Sie wissen einfach nicht, wie die Hoffnungslosigkeit beim Arbeiten einen dazu bringt, einfach Farbe zu nehmen, einfach fast alles zu tun, um aus dieser Formel, eine Art von illustrativem Bild zu machen, herauszukommen; ich meine, ich wische einfach mit einem Lappen über das ganze Bild oder nehme einen Pinsel oder reibe es mit etwas ab oder schleudere Terpentin und Farbe und alles andere gegen das Ding in dem Versuch, die willentliche Artikulation des Bildes zu unterbinden.«
Schon an dieser Beschreibung lässt sich erkennen, dass Bacon nicht dazu neigte, seine Arbeit zu überhöhen oder auch nur zu stilisieren. Er hatte keine Botschaft und wollte nicht als »bedeutend« gelten. Zu John Russell sagte er: »Ich bin kein Prediger. Ich habe nichts zu sagen zur ›Situation des Menschen‹.« Auch nicht in der nachträglichen Fixierung fertiger Bilder neigte er zu Beweihräucherung. Niederschmetternd bescheiden ist ein Statement aus dem Jahr 1955, das er für den Katalog einer Ausstellung in New York
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