Ihr Kriegt Mich Nicht!
Ordnung.«
»Danke.«
Mik stieg die vier Stufen zur Tür hinauf, öffnete und trat hinaus. Er hatte Bitterschokolade bekommen. Die eine Tafel steckte er in die Tasche, von der anderen zog er die Alufolie ab. Die Stücke waren verformt und weiß geflammt.
Bitterschokolade schmeckte ihm nicht, aber er aß sie trotzdem. Sie war umsonst.
DER PIRAT
Tony war schon zu Hause, er saß in seinem Zimmer vor dem Computer, in dessen Gehäuse der Name der Schule eingebrannt war. Er besuchte die Kfz-Ausbildung, die es an der Schule gab, war fünf Jahre älter als Mik und würde bald siebzehn werden. Sein Zimmer war ein einziges Durcheinander aus schmutzigen Klamotten und Motorradteilen.
»Ist Papa da?«
»Nein. Hast du Hunger? Soll ich was kochen?«
»Was gibt’s?«
»Fleischwurst«, sagte Tony und klickte die Seite weg, auf der er gesurft hatte. »Fleischwurst und Makkaroni.«
»Was ist das da?« Mik deutete auf einen Stapel flacher Kartons mitten im Zimmer.
Tony lächelte. »DVD-Player mit Festplatte«, sagte er. »Hab ich billig bekommen. Einen hab ich dir ins Zimmer gestellt. Er ist schon an den Fernseher angeschlossen. Ich kann dir ein paar neue Filme leihen.«
»Horror?«
»Ja, zwei Zombiefilme, die werden dir gefallen.«
Tony war in Ordnung. Tony war genau so, wie ein großer Bruder sein sollte. Er hatte lange blonde Haare, blaue Augen und ein geheimes Lächeln nur für Mik. Ein Lächeln, zu dem man heimkommen konnte, wenn die ganze Welt beschissen war. Tony lächelte, und alles war gut. Als wüsste er etwas, was niemand sonst wusste. Mik war davon überzeugt, dass Tony alles wusste. Tony kochte, Tony sorgte für Geld, Tony bezahlte die Rechnungen. Ohne ihn würde alles zum Teufel gehen.
Der Flur war lang und eng. Am einen Ende die Wohnungstür und am anderen die Toilettentür. Tony stellte die Eieruhr auf zehn Minuten und zog die blauen Eishockeyhandschuhe an. Mik nahm seine roten.
»Keine Schläge ins Gesicht«, sagte Mik.
»Jedenfalls nicht mit Absicht. Nur Schultern und Bauch.«
Die Hockeyhandschuhe schützten die Hände. Das war gut. So traute man sich, fester zuzuschlagen, so fest es nur ging. Trotzdem fühlte sich jeder Schlag so hart an wie mit nackter Faust. Sie stellten sich mitten im Flur auf, unter der Lampe. Hüpften kurz auf der Stelle, schüttelten die Arme und schlugen die Handschuhe gegeneinander.
»Jetzt«, sagte Tony.
Der Kampf begann, und Tony landete einen schnellen Treffer auf Miks Brust. Das tat weh. Der nächste Schlag traf die Schulter. Die ersten Schläge waren die bösartigsten. Danach wurden die einmal getroffenen Stellen unempfindlich. Meistens stand Mik die volle Zeit durch. Das Einzige, was ihn umwerfen konnte, war ein Schlag auf den Solarplexus. Oder ein unerlaubter Schlag auf die Nase.
Bereits nach wenigen Sekunden stand Mik gegen die Toilettentür gedrängt. Er steckte einen Schlag nach dem andern ein, versuchte sich aber mit einer wilden Schlagfolge zu befreien. Tony zog sich tänzelnd zurück und lachte. Mik erreichte ihn nicht. Tony war einen Kopf größer und hatte wesentlich längere Arme. Mik wirbelte mit den Fäusten, Tony dagegen brauchte nur die Handschuhe auszustrecken. Dann landete er wieder ein paar harte Treffer. Mik parierte mit den Händen, ging rückwärts, wurde wieder gegen die Toilettentür gepresst und kassierte Treffer um Treffer.
»Ich geb auf.«
»Die Uhr hat noch nicht geläutet. Halt durch!«
»Nein.«
»Auf geht’s«, schrie Tony. »Los, boxen!«
Er federte nach hinten und schüttelte die Arme, gönnte Mik eine Pause und gab ihm die Chance zurückzuschlagen.
»Duck dich nicht wie ein Feigling! Schlag zu, verdammt noch mal!«
Mik wurde es rot vor den Augen. Er stürzte nach vorn und wirbelte wild mit den Fäusten.
»Gut«, schrie Tony. »Zeig’s mir!«
Aber Miks Schläge trafen nicht. Er schlug, bis er rot und schweißnass war, schließlich begann er sogar mit den Füßen nach Tony zu treten. Der nahm seinen kleinen Bruder einfach in den Schwitzkasten, aus dem Mik sich wimmernd herauszuwinden versuchte.
»Ich geb auf«, sagte Tony und hielt Mik so lange fest, bis er sich beruhigte. »Du darfst nicht wütend werden. Nicht wütend und nicht gereizt. Nichts persönlich nehmen, das ist wichtig. Nichts darf man persönlich nehmen. Sonst ist man geliefert. Und jetzt weiter!«
Sie boxten sich wieder heiß. Im Flur stieg die Temperatur. Der Schweiß floss. Mik wurde vermöbelt, aber er blieb aufrecht, stand gegen die Toilettentür
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