Ihr Kriegt Mich Nicht!
dünnes Eis hinaus. Sie werden das hier erklären müssen.«
Noch mehr Menschen kamen aufs Eis hinaus, Fremde. Einer hatte Kameras umgehängt, ein Fotograf. Ein anderer war Journalist. Irgendjemand hatte die Zeitung benachrichtigt. Ein Feuerwehrauto hielt blau blinkend oben auf der Straße. Die Feuerwehrmänner hoben ein kleines Boot von einem Anhänger und zogen es aufs Eis. Sie sprachen mit den Polizisten und dann mit der Lehrerin.
Mik sah, dass etwas geschah. Eine Veränderung. Die Lehrerin sammelte alle Schüler ein und führte sie an Land. Nur Pi blieb neben Lena stehen. Der Journalist sprach mit der Papageienfrauund dann mit Lena und Bengt. Der Fotograf machte Aufnahmen. War das gut oder schlecht? Die Feuerwehrleute schüttelten die Köpfe. Zwei begannen sich oben am Wagen in Tauchanzüge zu zwängen und sich Pressluftflaschen umzuschnallen.
Bengt löste sich von den anderen und fuhr sachte und vorsichtig auf Mik zu. Er hielt in einiger Entfernung an. Das Eis schwankte und knackte schwach.
»Ist dir kalt?«
»Ja.«
»Du kannst jetzt kommen.«
»Darf ich bleiben?«
»Ja.«
»Für immer?«
»Irgendein idiotischer Ausschuss muss sich die Sache noch mal anschauen. Hier und jetzt auf dem Eis kann niemand was versprechen.«
Mik blieb beim Strömungsbrunnen stehen.
»Ich will es jetzt wissen.«
»Bitte, Mik! Von Behörden kriegt man nie eine schnelle oder direkte Antwort. Und von den zwei Pfeifen hier draußen auf dem Eis kannst du sowieso keine Antwort verlangen. Aber die Presse ist hier, der Kurier , und ich hab ihnen gesagt, was sie schreiben sollen. Die zwei Deppen aus Stockholm haben keine Chance. Du bist so gut wie zu Hause, keine Angst. Der vom Kurier nimmt die zwei schon in die Mangel. Letztes Jahr hat er sich einen Gemeinderat vorgeknüpft, dem die Papierfabrik eine Reise nach Dubai bezahlt hatte …«
Mik machte einen Schritt auf Bengt zu. Das Eis brach. Ein schwaches Knarzen und ein leiser, irgendwie zäher Knall. Mik stürzte durch klirrende Eisschollen. Kälte schoss ihm wie eingefrorenes Schwert durchs Rückgrat. Ein Schwert aus Eis. Alle Luft wich ihm aus den Lungen.
»Das Messer!«, schrie Bengt. »Das Messer!«
Mik erwischte die Eiskante, aber die Strömung strich unter seinen Beinen entlang und zerrte an seinem Körper. Er suchte nach dem Messer. Tastete mit gefühllosen Fingern. Brachte das Messer aus der Scheide und verlor es. Er wurde nach unten gezogen, weggezogen, glitt mit den Händen an der Unterseite des Eises entlang, versuchte sich mit den Fingernägeln festzukrallen. Er wollte zur Öffnung hinaufschwimmen und wurde immer weiter weggezogen. Sein Körper wurde gefühllos. Das Wasser führte ihn weich davon. Er sah all die schönen Muster im Eis, die vielen Luftblasen, die im Eis schwebten. Die gefrorenen Planeten in einer Wand aus dunkelblauem Glas. Das Wasser wollte ihn haben, und jetzt würde es ihn bekommen. Der Walfisch sang in seinem Ohr. Lange, traurige Töne. Der Walfisch im Selet. Er sah ihn. Er folgte ihm. Würde der ihm den Weg zeigen?
Lena schrie gellend auf, und Pi rannte auf das Eisloch zu, wurde jedoch von den Polizisten eingefangen. Bengt folgte Miks Fahrt unter dem Eis. Er konnte die bleichen Hände des Jungen erkennen, die an die Unterseite des Eises gepresst wurden und mit der Strömung davonglitten.
»Nicht sinken!«, schrie Bengt, obwohl er wusste, dass Mik nichts hören konnte. »Du darfst nicht sinken!«
Miks Gesicht schimmerte verschwommen durchs Eis wie durch eine frostüberzogene Glasscheibe. Bengt hastete über den Selet. Dann warf er den Tretschlitten von sich und hackte mit der Axt ein Loch ins Eis. Die Eissplitter stoben. Es musste rasend schnell gehen, noch nie hatte etwas so schnell gehenmüssen. Bengt hackte wie besessen. Wasser und Eis spritzten hoch. Im letzten Moment gelang es ihm, das Loch groß genug aufzuhacken.
Mik spürte, wie es immer wärmer wurde. Ein angenehmes, aber eigenartiges Gefühl. Er war doch ohne Jacke davongerannt. Es wurde heller. Er sah das Licht. War er am Ziel? Ich sehe das Licht. Wohin würde er jetzt kommen? Und wer hob ihn hoch? Wer zerrte an seinen Beinen?
Mik kam unterm Eis angeglitten. Bengt fuhr mit den Armen ins Wasser und riss ihn nach oben.
»Atme!«, sagte Bengt. »Atme!«
Mik hustete und spuckte. Bengt zog seinen Mantel aus und wickelte ihn darin ein.
»Wo bin ich?«, sagte Mik.
»Zu Hause.«
Mikael Engström
Mikael Engström wurde 1961 in Schweden geboren. Er begann seine
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