Ihr schafft mich
bisschen angehoben â er liegt aber immer noch deutlich unter den 56 Prozent, die vor etwa 30 Jahren galten. Das zeigt: Auf die Frage »Was ist gerecht?« kann man allein schon beim Thema Steuersatz immer wieder neue Antworten geben.
Früher war alles einfacher.
Wer die Frage »Was ist ein gerechtes Gesetz?« beantworten will, der muss erst einmal eine Vorstellung haben, wann eine gesamte Gesellschaft als gerecht gelten kann. Auch auf diese Frage gibt es verschiedenste Antworten. Im Mittelalter galt in Europa und auch in vielen anderen Teilen der Welt: Wer als Bauer geboren wurde, sollte auch Bauer bleiben. Auch wenn das so gut wie immer ein ziemlich ärmliches Leben bedeutete. Und wer als reicher Adliger geboren wurde, sollte reicher Adliger bleiben. Das war sein Stand , genauso wie es der Stand des Bauern war, Bauer zu sein. Die Menschen lebten in einer Ständegesellschaft . Jeder wusste, was ihn sein Leben lang erwartet. Das galt als eine Form der Gerechtigkeit.
Auch heute kann ein Kind natürlich sozusagen in einen »Stand« hineingeboren werden. Wer als Sohn oder Tochter einer langzeitarbeitslosen alleinerziehenden Mutter in Berlin-Marzahn auf die Welt kommt, gehört möglicherweise zum Stand der »Hartzer«. Das dürfte dann ziemlich sicher der Start in eine eher ärmliche Jugend sein. Dieses Kind kann sich ausrechnen, was es vom Leben zu erwarten hat. Genauso wie sich ein Bauernkind im Mittelalter seine Zukunft ausrechnen konnte. Während ein Kind, das in eine Millionärsfamilie in München-Bogenhausen geboren wird, immerhin schon mal eines ganz sicher ist: reich. Der Lebensweg der beiden Kinder ist also in einem gewissen Rahmen vorgezeichnet. Aber er ist bei Weitem nicht mehr so unabänderlich, wie er es in einer Ständegesellschaft war.
Die zwei Kinder aus Berlin-Marzahn und München-Bogenhausen haben zum Beispiel beide das Recht (und sogar die Pflicht), in die Schule zu gehen, also sich eine gewisse Ausbildung zu verschaffen. Damit das Kind aus Marzahn darüber hinaus noch eine ordentliche Berufsausbildung machen kann, hat es aber auch Anspruch auf bestimmte staatliche Zahlungen. Es soll die Chance haben, aus dem ärmlichen Leben der Langzeitarbeitslosen-Familie zu entkommen, in die es hineingeboren wurde. Für dieses Kind soll Chancengerechtigkeit herrschen, lautet ein Grundsatz moderner deutscher Politik. Früher war auch einmal von Chancengleichheit die Rede. Aber dass man dem Kind aus Marzahn und dem Kind aus Bogenhausen beim besten Willen nicht die gleichen Chancen geben kann, gilt inzwischen als ausgemachte Sache. Heute begnügt man sich damit, zu versuchen, dass die Chancen gerecht verteilt werden.
Ob die Chancengerechtigkeit wirklich umgesetzt wird, lässt sich nur von Fall zu Fall beurteilen. Eines aber ist sicher: Das Millionärskind aus München-Bogenhausen hat ganz andere Chancen, als Erwachsener ordentlich Geld ausgeben zu können, als das Arbeitslosenkind aus Berlin. Das Rezept, als »Cindy aus Marzahn« einigermaÃen wohlhabend zu werden, lässt sich wahrscheinlich kein zweites Mal umsetzen. Da muss sich das Kind aus unserem Beispiel schon etwas anderes einfallen lassen. Während das Münchner Kind ganz einfallslos den Wohlstand seiner Familie genieÃen kann. Ob das gerecht ist, darauf kann man verschiedene Antworten geben.
Der Schleier des Nichtwissens
Auf die Frage, wie eine ganze Gesellschaft aussehen müsste, damit sie als gerecht gelten kann, hat beispielsweise der britische Politikwissenschaftler John Rawls eine Antwort zu geben versucht und damit etliche Bücher gefüllt. Zusammenfassen lässt sich seine »Theorie der Gerechtigkeit« in einem Gedankenexperiment, das er angestellt hat. Man muss ja nicht immer mit Reagenzgläsern oder Messapparaten hantieren, wenn es ums Experimentieren geht. Man kann auch einfach den eigenen Kopf verwenden.
Das Experiment von John Rawls geht so: Der Leiter des Experiments stellt sich vor, er will eine menschliche Gesellschaft konstruieren. Er weià aber vorher nicht, welchen Platz er in dieser Gesellschaft selbst einnehmen wird. Der Leiter des Gedankenexperiments hat also keine Information, ob er als Langzeitarbeitsloser in Berlin-Marzahn lebt. Denn dann würde er vielleicht 10 000 Euro Arbeitslosengeld im Monat für gerecht halten und einen Steuersatz für Millionäre von 99 Prozent. Und er weià auch nicht, ob er als Millionär in
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