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Ihr schafft mich

Ihr schafft mich

Titel: Ihr schafft mich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nikolaus Nuetzel
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schwer ist, in der Politik und in der Gesellschaft etwas zu bewegen. Und warum es wahrscheinlich viel leichter nicht geht.
    Die 20-jährige Eva, die im Herbst 2011 beim Frankfurter Occupy-Camp zeltet, ist also Nichtwählerin. Obwohl sie Wahlen eigentlich für etwas ganz Hervorragendes hält und obwohl sie beispielsweise bei der Bundestagswahl im Jahr 2009 ihre Stimme hätte abgeben können. Es ist gar nicht so lange her, da war jemand wie sie ein Außenseiter. Bei über 90 Prozent lag die Wahlbeteiligung in der Bundesrepublik der 1970er-Jahre. Ganz klar also: Wählen gehen war damals die Norm. Nichtwähler sein hieß Minderheit sein.
    Das hat sich geändert. Inzwischen liegt bei Bundestagswahlen die Beteiligung eher bei 70 Prozent. Bei der Wahl zum Landtag von Sachsen-Anhalt im Jahr 2006 waren die Nichtwähler sogar deutlich in der Mehrheit. Nur 44,4 Prozent der Wahlberechtigten haben ihre Stimme abgegeben. Leute wie Eva, die erst mal lieber nicht wählen gehen, waren da die große Mehrheit.
    Beteiligung an Bundestagswahlen im Lauf der Jahrzehnte
    1972 = 91,9 %
    1976 = 90,7 %
    1980 = 88,6 %
    1983 = 89,1 %
    1987 = 84,3 %
    1990 = 77,8 %
    1994 = 79,0 %
    1998 = 82,2 %
    2002 = 79,1 %
    2005 = 77,7 %
    2009 = 70,8 %
    Quelle: Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags

    Auf die Frage, warum immer weniger Menschen bei Wahlen mitmachen, gibt es eine ganze Reihe von Antworten. Zunächst mal muss man feststellen: Wer sich aus dem System »Politik« komplett raushält und nicht einmal wählen geht, der hat dadurch für sich selbst keinen direkten Schaden. Wer sich hingegen beispielsweise aus dem System »Wirtschaft« komplett heraushält und sich weigert, seine Arbeitskraft zu verkaufen, der hat schnell ein Problem. Ihm wird bald das Geld fehlen, um so beim Konsumieren mitzumachen, wie es in unserer Gesellschaft üblich ist. Sich dem Wirtschaftssystem zu verweigern (oder auch dem Bildungssystem), kann also schmerzhafte Folgen haben. Sich dem Politiksystem zu verweigern, tut hingegen nicht weh.
    Dazu kommt, dass sich eine beträchtliche Zahl von Wahlberechtigten denkt: »Wahlen ändern nichts.« Schon vor etlichen Jahrzehnten konnte man Aufkleber lesen, die diesen Satz noch um einen weiteren Satz ergänzten: »Wahlen ändern nichts. Sonst wären sie verboten.« Leuten, die solche Aufkleber drucken und in die Landschaft kleben, kann man eines zumindest nicht vorwerfen: Dass sie sich nicht für Politik interessieren . Wer sich darüber Gedanken macht, ob Wahlen etwas ändern, macht sich ja ausgesprochen politische Gedanken. Man kann also auch nicht sagen, dass solche Leute politikverdrossen sind, wie es oft heißt.
    Bei einer ganzen Reihe von politischen Themen werden Bürger – und auch gerade junge Leute – nach wie vor aktiv. Sie investieren viel Zeit und Energie. Mitunter so viel Energie, dass die zuständigen Politiker völlig überrascht sind, wie sich beim Bahnhofsprojekt »Stuttgart 21« ab dem Jahr 2010 gezeigt hat. Auch die Occupy-Bewegung, die im Jahr 2011 von den USA aus in viele andere Länder geschwappt ist, war von Anfang an eine politische Bewegung.
    Politiker? Igitt!
    Es gibt also nicht unbedingt eine Politikverdrossenheit in modernen Demokratien wie Deutschland. Eines gibt es allerdings ohne Zweifel: Eine Politiker verdrossenheit. Die jährlichen Befragungen des Meinungsforschungsinstituts Allensbach sprechen hier eine klare Sprache. Im Jahr 2011 gaben lediglich sechs Prozent der Befragten an, dass der Beruf des Politikers bei ihnen ein hohes Ansehen hat. Im Jahr 1972 hatten noch viereinhalbmal so viele Menschen eine entsprechende Antwort gegeben – damals waren es immerhin 27 Prozent.
    Gesellschaftsforscher stellen fest, dass sich das System , das die Politiker bilden, immer weiter von anderen Systemen der Gesellschaft entfernt. Das Problem dabei: Wie alle anderen Systeme funktioniert auch das Politiksystem weitgehend aus sich selbst heraus. Es ist gar nicht darauf angewiesen, dass die Bürger sich dafür interessieren. Es hält sich selbst am Laufen.
    Nach der Landtagswahl 2006 in Sachsen-Anhalt, bei der über die Hälfte der Bürger erklärte: »Wir wählen nicht«, ist kein Politiker auf die Idee gekommen, zu sagen: »Unter diesen Bedingungen können wir keinen neuen Landtag bilden. Wenn über die Hälfte der Wähler nicht mehr mitmacht, dann müssen wir uns etwas Neues

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