Ihr schafft mich
Irrsinn, der möglicherweise in ihm brodelt, so richtig ausleben. Oder auch das, was das deutsche Strafgesetzbuch als »Mordlust« bezeichnet. Sofern es ihm gelingt, hinterher wieder halbwegs normal zu wirken, wird sein Töten ohne Strafe bleiben.
Im Krieg gilt das Töten also als rechtmäÃig. Es gilt sogar als gerecht . Ebenso wie die Befürworter der Todesstrafe es für gerecht halten, Menschen in bestimmten Situationen umzubringen. Was eine ausgesprochen weitreichende Frage aufwirft: Wann sind Regeln gerecht? Regeln über Strafen â aber auch der Rest der Regeln fürs menschliche Zusammenleben.
Kapitel Vierzehn
Was täte ich, wenn ich nicht wüsste, wer ich bin?
Warum das Streben nach Gerechtigkeit ist wie Pudding-an-die-Wand-nageln. Warum es aber trotzdem ohne nicht geht.
Auf der Wiese vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main konnte man ab dem Herbst 2011 eine ganze Zeit lang recht unterschiedliche Leute treffen. Die 20-jährige Eva zum Beispiel, eine Zahnarzthelferin. Als sie beschlieÃt, ihre Nächte in einem Zelt in der Frankfurter Innenstadt zu verbringen, macht sie gerade ihr Abitur nach. Man trifft aber auch den 43-jährigen Martin, einen arbeitslosen Altenpfleger. Und den 25-jährigen Paul, der gerade sein Studium der Politik und Philosophie zu Ende gebracht hat. Sie und ein paar Dutzend andere haben beim Occupy-Camp in Frankfurt ihr Lager aufgeschlagen, im wahrsten Sinne des Wortes. Sie zelten zwischen den Hochhäusern der wichtigsten Banken. Sie haben ganz unterschiedliche Lebenswege hinter sich. Aber wenn man sie fragt, worum es ihnen denn geht, verwenden alle immer wieder den gleichen Begriff: Gerechtigkeit .
Die Regeln, nach denen Geld und Wohlstand verteilt werden â in Deutschland wie auch auf der ganzen Welt â, sind nicht gerecht. Darin sind sich Eva, Martin und Paul einig. Das zu erkennen, ist in ihren Augen ganz einfach. Die heutigen Regeln töten Menschen in armen Ländern, die an ihrer Armut krepieren, finden sie. Und auch in den reichen Ländern werden viele Menschen ihrer Ansicht nach in ein unwürdiges Leben gezwungen. Bei der Frage, wie denn gerechte Regeln aussehen würden, wird es schon schwieriger. Paul, der gerade sein Politikstudium beendet hat, gibt zu: »Occupy hat noch nicht viele konkrete Forderungen, wie es anders gehen soll.« Aber er ergänzt: »So etwas braucht eben seine Zeit.«
Lass uns über Geld reden.
Eva zum Beispiel findet, dass wirklich Reiche gezwungen werden müssten, weit mehr von ihrem Geld abzugeben. Sie rechnet vor: Wenn sie gut 20 Prozent von ihrem Zahnarzthelferinnen-Lohn ans Finanzamt abführt und noch einmal gut 20 Prozent an die Sozialversicherung, dann ist fast die Hälfte weg, und ihr bleiben »nur ein paar Kröten«. Wenn ein Multimillionär ebenfalls die Hälfte abgibt, »dann bleiben ihm immer noch ein paar Millionen«, stellt sie fest. Auf die Frage »Was sind gerechte Steuern?« kann man also schon mal ganz unterschiedliche Antworten geben. Eva fände es richtig, wenn der Millionär weit mehr als die Hälfte zahlen müsste. Und sie weit weniger.
Als unbestritten gilt in Ländern wie Deutschland erst einmal nur: Es ist gerecht, wenn alle, die eine bestimmte Summe Geld verdienen, einen Teil davon als Steuern an den Staat abgeben. Denn nur auf diese Weise lassen sich Aufgaben erledigen, die nur eine übergeordnete Ebene â wie der Staat â bewältigen kann. StraÃen bauen zum Beispiel oder auch Schulen. Und es gilt genauso als akzeptiert, dass Steuergelder von denen, die halbwegs gut verdienen, eingesetzt werden, um andere zu unterstützen, die weniger Geld haben. Wenn Eva nach ihrem Abi studieren möchte, soll sie zum Beispiel die Möglichkeit haben, Bafög zu bekommen â aus Steuergeldern.
Diese Art der Umverteilung gilt also in Deutschland grundsätzlich als gerecht. Doch wie die Umverteilung im Einzelnen aussehen soll, ist damit noch nicht beantwortet. Der Spitzensteuersatz, das heiÃt der prozentuale Anteil, den Gutverdiener höchstens an Steuern zahlen müssen, lag in den 1980-er Jahren in Deutschland bei 56 Prozent. Damals galt es also als gerecht, dass jemand, der eine Million D-Mark (damals hieà die Währung bekanntlich so) verdient, davon 560 000 DM als Steuern abgeben sollte. Durch diverse Gesetzesänderungen wurde dieser Spitzensteuersatz gesenkt, dann wieder ein
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