Ihr Wille Geschehe: Mitchell& Markbys Zehnter Fall
der geringste Zweifel.«
»Unvereinbare Persönlichkeiten?«, erkundigte sich Markby, als Smeaton in seine Erinnerungen verfiel und nicht weitersprach. Der alte Brigadegeneral zuckte zusammen.
»Was? Oh. Ja, so könnte man es nennen. Es steckte noch mehr dahinter, wie das so ist. Ich bin kein Seelenklempner.«
»Richtig.« Markby unterdrückte ein Lächeln.
»Diese Psychiater, so gut sie es ohne Zweifel meinen, erklären scheinbar immer alles damit, dass sie sagen, jemand hätte eine unglückliche Kindheit gehabt. Doch das galt nicht für Olivia. Ihre Eltern hatten sie angebetet und sie über alle Maßen verwöhnt. Als Ergebnis dachte sie wohl, alle anderen müssten sie ebenfalls anbeten. Die meisten Menschen taten es auch. Wer es nicht tat, wurde … überfahren, niedergewalzt wie ein Igel, der einem schweren Laster in den Weg kommt! Olivia dominierte jeden in ihrer Umgebung. Sehen Sie sich nur jene arme kleine Maus Violet Dawson an! Sie war schüchtern ohne Ende und extrem zurückhaltend. Nicht, dass sie keine hübsche Frau gewesen wäre, o nein, im Gegenteil! Sie hätte sogar Olivia ausstechen können, was das angeht. Ich lernte sie erst bei der Hochzeit kennen, als sie Olivias Brautjungfer spielte. Sie besaß dunkles Haar, wie Olivia, doch sie war ein wenig kleiner und schlanker gebaut. Ich hielt sie für mindestens genauso attraktiv, doch ihr fehlte einfach die Persönlichkeit, die Ausstrahlung. Was die Charakterstärke anging, war sie Olivia hoffnungslos unterlegen. Zuerst begriff ich nicht, warum Olivia die unglückselige Violet Dawson überall mit hinschleppte wie eine Trophäe – es sei denn, sie brauchte einen Spiegel für ihren eigenen Glanz.« Smeaton schnaubte leise.
»Es gibt ein Lied mit einem lustigen Refrain, der, glaube ich, ›und sie brachte ihre Mutter mit‹ lautet. Als Olivia Marcus heiratete, brachte sie Violet Dawson mit. Sie gingen eine richtiggehende Ménage à trois ein. Ich empfand es damals als seltsam, doch andererseits hielt ich es für eine zeitlich begrenzte Geschichte. Es herrschte Krieg, und viele Leute lebten vorübergehend in schwierigen Verhältnissen, weil sie ausgebombt waren oder was weiß ich. Freunde und Familien nahmen sie auf. Olivia hatte Violet Dawson aufgenommen, schön. Außerdem lebten allein stehende Frauen in jener Zeit nicht allein in einer Wohnung. Es galt als unschicklich. Daher war es vielleicht nicht so ungewöhnlich, wie es heute scheint, dass Olivia ihrer alten Schulfreundin ein Zuhause gegeben hatte. Doch bald stellte ich fest, dass es nicht ganz so einfach war, wie ich geglaubt hatte.« Lawrence rutschte auf seinem Sessel hin und her.
»Marcus hatte keinen Schimmer, was um ihn herum vorging. Ich war dessen ziemlich sicher. Schließlich hatte er Olivia soeben erst geheiratet, und ich glaube nicht, dass er sich vorstellen konnte, sie würde die Dawson ihm gegenüber vorziehen, um es unverblümt auszusprechen. Doch er hatte das Gefühl, dass die Freundschaft zwischen den beiden Frauen ein wenig zu intensiv war. Andererseits glaubte er wahrscheinlich, dass Frauen solche Freundschaften hatten. Er wusste es nicht besser. Jedenfalls hat er das zu mir gesagt. Er wusste wirklich nicht viel über Frauen, der gute Marcus. Er war ein naiver Junge in diesen Dingen. Ein brillanter Intellekt, aber naiv. Er stand vor einer wunderbaren akademischen Karriere, als der Krieg ausbrach. Sie wurde vorübergehend auf Eis gelegt, wie das bei so vielen Männern damals der Fall war. Er hätte sie ganz sicher wieder aufgenommen; an der Universität war ein Posten für ihn reserviert. Diese Verschwendung … Krieg ist ein blutiges Geschäft, aber das wirklich Kriminelle daran ist die unglaubliche Verschwendung.« Lawrence Smeaton schüttelte den Kopf.
»Ich spreche nicht nur von hellen Köpfen wie meinem Bruder. Jedes verlorene Leben ist eine schändliche Verschwendung von Möglichkeiten. Der französische Schriftsteller Saint-Exupéry, er wusste genau, was ich meine. Wenn Sie je etwas von ihm gelesen haben, dann wissen Sie das. Wenn nicht – lesen Sie etwas von ihm.«
»Warum, glauben Sie, hat Olivia Ihren Bruder geheiratet«, wagte Markby den alten Brigadegeneral zu unterbrechen.
»Wenn Sie so sicher waren, dass sie nicht mit dem Herzen dabei war?«
»Weil Frauen zu dieser Zeit eben heirateten«, erwiderte Lawrence einfach.
»Es war die gesellschaftlich akzeptierte Norm. Jemand wie Olivia, gut aussehend, gebildet, mit reichlich Geld gesegnet und in der Gesellschaft
Weitere Kostenlose Bücher