Ikone der Freiheit - Aung San Suu Kyi
vermutlich war es eine Art Trauma, aber gleichwohl war das nichts, womit ich nicht umgehen konnte. Es versteht sich von selbst, dass mich die Aussicht, ihn nie wiederzusehen, stark beeinflusste.«
Rein äußerlich quittierte Khin Kyi den Tod ihres Sohnes mit derselben stoischen Gelassenheit, mit der sie die Nachricht von der Ermordung Aung Sans aufgenommen hatte. Einige Zeit vor dem Unglück war sie zur Chefin einer Planungskommission im Sozialministerium befördert worden. Als einer ihrer Mitarbeiter ihr Büro betrat und die schreckliche Nachricht überbrachte, fuhr sie nicht direkt nach Hause, sondern blieb im Ministerium und ging weiter ihrer Arbeit nach. Die Reaktion wirkt ungewöhnlich. Einige Biographen Aung San Suu Kyis sind der Ansicht, dass der Vorfall im Nachhinein von der Junta konstruiert wurde, um damit einen Schatten auf die Tochter Khin Kyis zu werfen. Doch die Angaben stammen direkt von Aung San Suu Kyi, so dass es eigentlich keinen Grund gibt, ihren Wahrheitsgehalt in Zweifel zu ziehen. Sie beschreibt die Reaktion ihrer Mutter als Beispiel für das enorme Verantwortungsgefühl ihrer Eltern im Hinblick auf soziale und gesellschaftliche Pflichten. Trifft dies zu, handelt es sich um eine geradezu unmenschlich rationale Haltung: Das Lebens des Sohnes ist nicht zu retten, also gibt es auch keinen Grund, nach Hause zu gehen und die Arbeit zu vernachlässigen, mit der sie gerade beschäftigt ist.
Selbst wenn die Episode der Wahrheit entspricht, muss Khin Kyi sich gleichwohl in einem Schockzustand befunden haben, denn nach dem Tod ihres Sohnes wollte sie nicht länger im Haus in der Tower Lane wohnen bleiben. Im Frühjahr 1953 packte die Familie ihre Sachen zusammen und zog in das weiße Steinhaus in der University Avenue 54 am schönen Inya See, einige Kilometer nördlich der Tower Lane. Die Gegend war früher von britischen Kolonialbeamten und angesehenen Geschäftsleuten bewohnt gewesen, doch nach der Souveränität hatten die neuen Machthaber Burmas einige der Villen rund um den See übernommen. Armeechef Ne Win wohnte beispielsweise in einer geräumigen Villa gleich auf der anderen Seeseite. Als Aung San Suu Kyi 40 Jahre später von Ne Wins Handlangern unter Hausarrest gestellt wurde, hätten sie einander im Prinzip über die spiegelglatte Wasseroberfläche hinweg zuwinken können.
Aung San Suu Kyi war eine materiell privilegierte Kindheit in einem Land vergönnt, in dem die meisten Menschen in Armut und Elend lebten. Nichtsdestotrotz war ihre Jugend nicht von Überfluss geprägt. Khin Kyi hatte dieselbe asketische Haltung, die schon Aung San eingenommen hatte, und achtete sehr darauf, das Kind nicht zu verwöhnen.
»Meine Spielsachen waren in Burma nach dem Zweiten Weltkrieg sicher ein Luxus, aber sie waren dennoch sehr bescheiden«, schrieb Aung San Suu Kyi in den 1990er Jahren für eine thailändische Zeitungskolumne. »Ich hatte ein paar haarlose, großäugige Puppen aus rosa Plastik, die ständig auseinanderfielen und Beulen bekamen. Arme und Beine waren beweglich und mit Gummiband am Körper befestigt. Aber die waren nicht ausreichend stabil für unruhige Kinderhände.«
Gingen irgendwelche Dinge kaputt, mussten sie geflickt oder repariert werden. Neue Sachen kamen nicht in Frage. Suu Kyi fand diese Puppen eigentlich hässlich und unpraktisch, behandelte sie aber mit Respekt, nachdem sie einige Erwachsene hatte sagen hören, dass Japans Industrialisierung mit der Herstellung solcher Spielsachen begonnen hatte. In ihrer kindlichen Phantasie verwandelten sich die Puppen zu Schlüsseln, die die Tür zu einer besseren Welt öffnen konnten.
Ihr anderes Lieblingsspielzeug war ein Kaleidoskop. Als es zerbrach, fertigte ihr Bruder, Aung San Oo, einen Ersatz mit Hilfe von Spiegeln und farbigen Glassplittern für sie an. Doch in Aung San Suu Kyis Augen konnte die Kopie das Original niemals ersetzen.
Heutzutage sind die meisten Spuren der britischen Kolonialzeit in Burma ausgelöscht. Abgesehen von der Architektur, den verstaubten und heruntergekommenen Häusern in der Innenstadt von Rangun, die so aussehen, als hätte jemand ein paar Londoner Viertel nach Südostasien versetzt, ist nicht viel übrig geblieben. In einem Teil der Schulen wird Englisch unterrichtet, aber nach Ne Wins Machtübernahme war selbst dies für viele Jahre verboten. (Ne Win führte Englisch als Schulfach wieder ein, nachdem eine seiner Töchter aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse von einer Schule in den USA abgewiesen worden
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