Ikone der Freiheit - Aung San Suu Kyi
paar Tagen war Aung San Suu Kyi es jedoch leid. »Ich heiße nicht Aung San«, sagte sie mit scharfer Stimme. »Aber du bist doch mit ihm verwandt?«, fragte die Lehrerin, entschied sich aber gleichwohl, sie für den Rest des Schuljahrs mit Suu Kyi anzureden.
»Deswegen erinnere ich mich so gut an sie«, sagte Clas Örjan. »Hätte sie einen englischen Namen gehabt, hätte ich sie wahrscheinlich vergessen.«
Er erzählte, dass ungefähr 40 Kinder in dieselbe Klasse gingen, die geschwätzigen Schüler saßen hinten in der letzten Reihe. Aung San Suu Kyi hingegen saß immer ganz vorn.
Der Unterricht fiel ihr leicht, und besonders mochte sie Sprachen. Sobald sie zu lesen gelernt hatte, verließ sie die Welt der Puppen und stürzte sich auf die Welt der Bücher. Sein Win erwähnte, dass sie immer ein Buch mit sich herumtrug. Kam seine Familie zu Besuch, fand sie Suu Kyi oft in einem Buch versunken vor.
Als sie neun Jahre alt war, bekam sie einen Tipp von einem ihrer Cousins; er riet ihr, ein Sherlock-Holmes-Buch zu lesen. Schon bald war sie ganz versessen auf Kriminalromane. »Bugs Bunny konnte sich nicht mit einer Person messen, die allein durch die Untersuchung eines alten, abgetragenen Hutes Rückschlüsse auf den körperlichen und geistigen Zustand des ehemaligen Besitzers, seine finanzielle Lage und seine Eheprobleme zu ziehen vermochte«, schreibt sie in einem ihrer Texte über Literatur. Auf ihre sympathisch unprätentiöse Weise stellt sie fest, dass nichts »entspannender ist, als schnell alle praktischen Angelegenheiten zu erledigen und danach den Rest des Wochenendes mit einem Krimi zu verbringen«.
Sie liebte die Krimiklassiker von Georges Simenon und Agatha Christie, beschäftigte sich aber auch mit härteren Stoffen wie z. B. den Romanen von Raymond Chandler oder Dashiell Hammet. Im späteren Leben begeisterte sie sich für P. D. James’ Erzählungen um den ruhigen Kommissar Adam Dalgliesh. Gerade von Dalgliesh scheint Suu Kyi besonders viel zu halten. »Der Tropfen französischen Künstlerbluts in seinen Adern machte ihn weitaus interessanter als scheinbar so exotische Charaktere wie Hercule Poirot«, schreibt sie in einem Kommentar, der eher nach einer politischen Stellungnahme zu Mischehen als nach einem literaturkritischen Standpunkt klingt.
Sie las alles, und sie las überall. Sogar wenn sie mit ihrer Mutter zum Einkaufen fuhr, hatte sie ein Buch dabei. Aufgrund der chaotischen Verkehrssituation, die ihr immer Übelkeit bereitete, konnte sie zwar nicht während der Autofahrt lesen, doch sobald der Wagen anhielt, steckte sie ihre Nase wieder in irgendein Buch. »Ich las sogar, wenn wir vor einer roten Ampel stehenblieben. Dann musste ich das Buch wieder zumachen, konnte es aber meist kaum abwarten, bis der Wagen erneut irgendwo anhielt.«
Als sie zehn Jahre alt war, träumte sie davon Soldat und Offizier zu werden – am liebsten natürlich General, so wie ihr Vater. »Zu jener Zeit war die Armee eine respektierte und ehrenhafte Institution, die dem Volk diente, anstatt es zu bestehlen«, zitiert sie Alan Clements in seinem Buch. Der Traum von einem Soldatenleben verblasste allerdings schnell, wahrscheinlich aus dem einfachen Grund, dass Frauen der Zugang zur Armee nicht gestattet war. Beeinflusst von all den Büchern, die sie verschlang, wollte sie stattdessen Schriftstellerin werden. Sie wollte faszinierende und packende Geschichten schreiben, eben solche, die sie selbst gern las.
Im späteren Leben sollte sie einen Teil dieses Traumes verwirklichen. In den 1980er Jahren veröffentlichte sie eine Reihe von Schriften und Büchern. Ein Buch handelte von ihrem Heimatland, ein anderes von Bhutan – beide erschienen in Australien und waren für Kinder gedacht – darüber hinaus schrieb sie ein Essay über ihren Vater und mehrere Artikel zu aktuellen politischen Fragen. Nur schöngeistige Literatur hat sie nicht geschrieben – zumindest bis jetzt noch nicht.
Von Khin Kyi wird manchmal gesagt, sie habe nicht einen Mann, sondern ein Schicksal geheiratet. Und umgekehrt heißt es oft, dass Aung San eine Frau heiratete, die über genügend Moral und Rückgrat verfügte, um sein Ideal auch über den Tod hinaus zu bewahren.
Sein Ideal, nicht ihr eigenes.
Abgesehen davon, dass diese Aussage ein patriarchalisches Weltbild widerspiegelt, ist sie doch gleichzeitig wahr und falsch. Falsch insofern, als Khin Kyi selbst über ausgeprägte politische Ansichten sowie ein klares Verständnis von Richtig und
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