Ilias
Dieser Zorn ist das Zentralmotiv, und die Handlung der Ilias erzählt nichts anderes als die Geschichte vom Entstehen, von den Folgen und vom Vergehen dieses Zorns. Er kommt bei einem Streit Achills mit dem Heerführer Agamemnon um die Verteilung der Kriegsbeute auf; Achill fühlt sich gekränkt und nimmt nicht mehr am Kampf teil. Seine Mutter, die Meergöttin Thetis, erfleht von Zeus die Wiederherstellung der Ehre ihres Sohnes, und Zeus beschließt, den Troern so lange die Oberhand über die Griechen zu geben, bis diese die Beleidigung Achills gesühnt haben. Die nunmehr sich einstellenden Erfolge der Troer haben insofern etwas Vorläufiges; aber sie dringen immerhin, unter Rückschlägen und Erfolgen, bis zu den Schiffen der Griechen vor, wo sie von Patroklos, dem Freund Achills, in dessen Rüstung aufgehalten werden. Als dieser jedoch sich sogar anschickt, gegen Achills Verbot die Stadt zu erobern, wird er von Hektor getötet, da Zeus seinen Plan nicht gefährden möchte, Achill bei den Griechen wieder zu Ehren bringen. Der Zorn Achills bekommt mit dem Tod des Patroklos eine neue Ursache, bleibt aber in dieser gewandelten Form bis zum Ende der Ilias das bestimmende Moment der Handlung. Erst als nach dem Tod Hektors der alte trojanische König Priamos Achill bittet, seinen Sohn bestatten zu dürfen, legt sich Achills Zorn, womit das Epos endet.
Die Konsequenz, mit der die gesamte Handlung auf ein einziges Thema, den Zorn, bezogen ist, die Konzentration aller kompositorischen, sprachlichen und stilistischen Mittel auf ein einziges Ziel hin, die überzeugende und stringente Entfaltung dieses Zentralmotivs – all das zeigt den planenden Geist und die ge staltende Arbeit eines Mannes, der zwar aus dem Fundus der epischen Überlieferung schöpft, der aber nicht einfach fertig vorliegende Traditionselemente zusammensetzt, sondern das Vorgefundene, nach einem einheitlichen Plan vorgehend, in einen völlig neuen Zusammenhang stellt und selbst die der rhapsodischen Zunfttradition entnommenen Wendungen, Verse und Szenen dazu benutzt, die Masse des Stoffs durch Anspielungen, vor- und rückwärts weisende Verbindungen, durch Motiv- und Gedankenketten zu gliedern und zu ordnen, und der schließlich nicht einfach eine Kompilation von katalogartig reihenden – ›alten‹ – und dramatisch ausgefeilten – ›jungen‹ – Teilen vornimmt, sondern den Wechsel zwischen diesen verschiedenen Stilschichten dem Zusammenwirken von vorbereitenden und höhepunktartig gesteigerten Szenen dienstbar macht. Dieser Mann – eine Dichterindividualität von höchstem Rang – repräsentiert nicht den Anfang, sondern den Abschluss einer langen epischen Tradition.
Aus dieser Tradition mag manches in den Ilias -Stoff eingeflossen sein: Spuren der Argonautensage oder der Sage von den Sieben gegen Theben und Parallelen zur Memnonsage werden erkennbar. Auch die in der Ilias formelhafte Bezeichnung des Odysseus als eines »vielduldenden« Mannes, die uns erst durch die etwas jüngere Odysseia verständlich wird, deutet auf eine alte Odysseus-Geschichte vor der uns bekannten Odysseia .
Die Wirkung von Ilias (und Odysseia ) lässt sich schon daran erkennen, dass alle anderen Heldenepen jener Jahrhunderte häufig bis auf Fragmente überlagert wurden und teilweise fast in Vergessenheit gerieten. Allerdings gab es in der Antike immer wieder Kritik an Sprache, Konstruktion und Götterdarstellung in den homerischen Epen; andererseits konzipierte Vergil seine Aeneis als eine Synthese aus Odysseia (Buch 1–6) und Ilias (Buch 7–12).
In Mittelalter und Renaissance bis zur Aufklärung setzt sich die Homerkritik fort bis hin zur ›homerischen Frage‹ der Gegenwart. Andererseits wird im Sturm und Drang Homer neben Shakespeare zum leuchtenden Beispiel einer ›natürlichen‹, weil aus der Anschauung der Wirklichkeit stammenden Poesie (Les sing, Herder, Goethe).
Mag sich die im 18. Jh. geborene Vorstellung von der ›Ursprünglichkeit‹ Homers durch die Erforschung der vorhomerischen Tradition und durch die Aufdeckung der kunstvollen und keineswegs ›spontanen‹ Komposition der Ilias als revisions bedürftig erwiesen haben – der Eindruck der Naturnähe und Wirklichkeitsfülle der Homerischen Epik wird dadurch nicht beeinträchtigt. Vor allem die überaus zahlreichen und charakteristischen Gleichnisse geben dafür anschaulich Zeugnis: Hier werden Gestalten und Ereignisse der epischen Handlung in Beziehung gesetzt zu Phänomenen aus dem
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