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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Paris. »Ich muss noch meine Kriegsrüstung anlegen. Geh schon vor, ich hole dich ein.«
    Hektor erwiderte nichts. Er war immer noch nicht bereit, ohne Paris zu gehen, aber die schöne Helena – und sie war wirklich schön – erhob sich von ihrem Stuhl, kam über den Marmorboden zu Hektor herüber und legte ihm die Hand auf den blutverschmierten Unterarm. Ihre Sandalen machten leise Geräusche auf dem kühlen Marmor.
    »Mein lieber Freund«, sagte sie, und ihre Stimme bebte vor Gefühl, »Schwager der grausigen, Unheil stiftenden Hündin – hätte mich doch meine Mutter am Tag meiner Geburt im dunklen ionischen Meer ertränkt, statt dass ich der Grund für all dies bin!« Ihre Stimme versagte, sie nahm die Hand von Hektors Arm und brach in Tränen aus.
    Der edle Hektor blickte erstaunt drein, hob seine freie Hand, als wollte er ihr über die Haare streichen, zog sie dann jedoch rasch zurück und räusperte sich verlegen. Wie so viele Helden war er allen Frauen außer seiner eigenen gegenüber unbeholfen. Bevor er etwas sagen konnte, fuhr Helena fort – immer noch weinend, stieß sie die Worte abgehackt und unter Schluchzern hervor.
    »Ach, edler Hektor, wenn die Götter mir wirklich all diese schrecklichen Jahre des Blutvergießens bestimmt haben, wäre ich wenigstens gern eines besseren Mannes Gemahlin – eines Kämpfers statt eines Liebhabers, eines Mannes mit dem Willen, mehr für seine Stadt zu tun, als am langen Nachmittag ihres Untergangs mit seiner Frau im Bett zu liegen.«
    Paris trat einen halben Schritt auf Helena zu, als wollte er sie ohrfeigen, aber ihre Nähe zu dem hoch gewachsenen Hektor hielt ihn zurück. Wir Fußsoldaten an der Wand schauten ins Leere und taten so, als hätten wir keine Ohren.
    Helena sah Paris an. Ihre Augen waren rot und schwammen in Tränen. Sie sprach immer noch mit Hektor, als wäre Paris – ihr Entführer und potenzieller zweiter Gatte – nicht im Raum. »Dieser … Mensch hat die abgrundtiefe Verachtung echter Männer verdient. Er ist wankelmütig und hat keinen Mumm. Jetzt nicht … und auch sonst nicht.«
    Paris blinzelte, und eine Röte stieg ihm in die Wangen, als wäre er geschlagen worden.
    »Aber das wird er zu spüren bekommen, Hektor«, fuhr Helena fort. Sie spie die Worte jetzt buchstäblich aus; ihr Speichel sprühte auf den Marmorboden. »Ich schwöre dir, er wird die Früchte seiner Feigheit ernten. Bei den Göttern, ich schwöre es.«
    Paris ging steifbeinig hinaus.
    Helena drehte sich zu dem schmutzstarrenden Krieger um, der neben ihr stand. »Aber komm zum Sofa und setz dich zu mir, lieber Schwager, der du am meisten unter all den Kämpfen zu leiden hast – und alles meinetwegen, Hektor, einer solchen Hündin wegen.« Sie setzte sich auf das gepolsterte Sofa und klopfte auf den Platz neben ihr. »Wir beide sind in diesem verhängnisvollen Geschehen miteinander verbunden, Hektor. Zeus hat den Keim zahlloser Tode, ja des Untergangs unserer Welt in unsere Brust gepflanzt. Mein lieber Hektor. Wir sind Sterbliche. Wir werden beide sterben. Aber du und ich, wir werden im Liede noch fortbestehn für die künftigen Menschen …«
    Hektor machte auf dem Absatz kehrt, als wollte er nichts mehr hören, und ging hinaus. Er setzte seinen hohen Helm auf, sodass er in den schräg einfallenden Strahlen der tief stehenden Abendsonne aufblitzte.
    Ich warf einen letzten Blick auf Helena, die mit gesenktem Haupt auf der gepolsterten Bank saß, sah ihre perfekten, blassen Arme und die weichen Brüste, die sich unter ihrem dünnen Gewand abzeichneten, nahm meine Lanze – die Lanze des Spähers Dolon – und folgte Hektor und seinen anderen drei getreuen Lanzenkämpfern.
     
    Es ist wichtig, dass ich es auf diese Weise erzähle. Helena bewegt sich, flüstert meinen Namen, schläft aber wieder ein. Meinen Namen. Sie flüstert: »Hock-en-bär-iihh«, und es ist, als hätte man mir eine Lanze ins Herz gestoßen.
    Und während ich nun neben der schönsten Frau der Antike liege, vielleicht der schönsten Frau der Geschichte – oder zumindest der Frau, für die die meisten Männer gestorben sind –, erinnere ich mich an weitere Einzelheiten aus meinem Leben. Meinem früheren Leben. Meinem echten Leben.
    Ich war verheiratet. Meine Frau hieß Susan. Wir lernten uns als Studenten am Boston College kennen und heirateten kurz nach Abschluss des Studiums. Susan war Beratungslehrerin an der High School, arbeitete aber nur noch selten, nachdem wir nach Indiana gezogen waren, wo ich seit

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