Ilium
Monate nach dem Tag, an dem Athilles Eëtion, Andromaches Vater, getötet und sie zur Geisel genommen hatte. Sie starb im Kindsbett, als sie das Kind des Mörders ihres Gatten zur Welt bringen wollte.
Da sage noch einer, dass die gehässige Göttin Ironie nicht die Welt regiert.
Andromache und ihr Baby waren nicht zu Hause. Hektor eilt von einem Gemach zum anderen, während wir vier Lanzenkämpfer zurückblieben und den Eingang bewachten, ohne uns einzumischen. Der Held war offensichtlich besorgt und legte mehr Nervosität an den Tag als jemals auf dem Schlachtfeld. Als er zum Eingang zurückkehrte, hielt er zwei Mägde auf, die gerade hereinkamen.
»Wo ist Andromache? Ist sie mit den anderen edlen Trojanerinnen zum Tempel Athenes gegangen? Zu meiner Schwester? Zu den Schwagersfrauen?«
»Unsere Herrin ist zur Mauer gegangen, Herr«, antwortete die älteste Magd. »Alle Trojanerinnen haben von den schrecklichen Kämpfen des heutigen Tages gehört, von Diomedes’ Zorn und der Schicksalswende gegen die Söhne Iliums. Deine Gemahlin ging zum großen Turm von Ilium, um zu sehen, was es zu sehen gibt, und in Erfahrung zu bringen, ob ihr Herr und Gemahl noch am Leben ist. Einer Rasenden gleich ist sie davongestürzt, Herr, und die Amme trug ihr das Kind nach.«
Wir konnten kaum mit Hektor Schritt halten, als er zum skäischen Tor lief, und einen Block von der Mauer entfernt wurde mir klar, dass ich besser nicht bei ihm blieb. Dieses Ereignis – Hektors Begegnung mit Andromache auf der Brustwehr – war zu wichtig. Zu viele Götter würden sie mit ansehen. Durchaus möglich, dass auch die Muse dort war und mich suchte.
Mehrere hundert Meter vor dem Tor trennte ich mich von den Lanzenkämpfern, die mit großen Sätzen hinter Hektor hereilten, und mischte mich in einer Seitenstraße unter die Menge. Die Schatten waren jetzt tief, die Luft kühlte ab, aber die enorm hohen Türme Iliums lagen noch voll im roten Schein der Abendsonne.
Immer noch in der Gestalt des Lanzenkämpfers Dolon, suchte ich mir einen dieser Türme aus und stieg die Wendeltreppe im Innern hinauf.
Der Turm war ein wenig wie ein Minarett gebaut – obwohl der Islam noch Jahrtausende in der Zukunft lag –, und als ich auf den schmalen, kreisrunden Balkon hinaustrat, war dort niemand außer mir. Die Sonne schien mir in die Augen, aber ich polarisierte meine optischen Filter, vergrößerte das Bild im Fokus meiner Kontaktlinsen – dieses Geschenks der Götter – und hatte dadurch freien Blick auf die Wiedervereinigung auf der Mauer.
Andromache eilte die Brustwehr entlang und fiel ihrem Mann um den Hals. Ihre Füße wirbelten durch die Luft, als er sie hochhob und die Umarmung erwiderte. Sein polierter Helm fing das warme Abendlicht ein. Andere Soldaten und besorgte Frauen auf der Mauer zogen sich ein Stück zurück, um ihrem Anführer und seiner Braut ein wenig Raum zu lassen. Nur Andromaches Zofe, die den Einjährigen trug, blieb in der Nähe des Paares.
Ich hätte ihr Gespräch mit meinem Rohr des Richtmikrofonstocks belauschen können, entschied mich jedoch, sie nur zu beobachten, zuzusehen, wie ihre Münder sich bewegten, und ihr Mienenspiel zu studieren. Nach der Aufwallung von Erleichterung, ihren Krieger-Gemahl lebendig und unverletzt wiederzusehen, runzelte Andromache die Stirn und begann rasch und eindringlich zu sprechen. Aus Homers Erzählung kannte ich noch die groben Umrisse dessen, was sie sagte – eine weitere Erzählung ihrer eigenen Kümmernisse, ihrer Einsamkeit, nachdem Achilles ihren Vater und ihre Brüder ermordet hatte. Ich konnte ihr tatsächlich manche Worte von den Lippen ablesen, als sie sagte: »Hektor, du bist für mich jetzt Vater und Mutter. Ein Bruder bist du für mich, mein Geliebter, und auch mein blühender, lebendiger Gatte! Verlass mich nicht. Geh nicht wieder hinaus auf die Ebene von Ilium, dort findest du den Tod, und man wird deinen Leichnam hinter einem achäischen Streitwagen herschleifen, bis dir das Fleisch von den Knochen gerissen wird. Bleib hier! Kämpfe hier. Schütze unsere Stadt, indem du hier auf dem Turme kämpfst.«
»Das kann ich nicht«, sagte Hektor, und sein Helm blitzte auf, als er den Kopf schüttelte.
»Doch, du kannst«, sah ich Andromache sagen, das Gesicht vor Liebe und Angst verzerrt. »Du musst. Stell das Kriegsvolk beim Feigenbaum da drüben auf … siehst du ihn? Dort ist die Stadt ja nicht sehr schwer zu ersteigen. Dreimal schon kamen die Argeier und versuchten dort, die
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