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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Mauern zu erstürmen, angeführt von ihren Besten um den großen und kleinen Ajax, Idomeneus und den schrecklichen Diomedes. Vielleicht hat ihnen einer, der in den Winken der Götter sich auskennt, unseren Schwachpunkt dort verraten. Kämpfe hier, mein Gemahl! Beschütze uns hier!«
    »Ich kann nicht.«
    »Du kannst«, rief Andromache und löste sich aus seiner Umarmung. »Aber du willst nicht!«
    »Ja«, sagte Hektor. »Ich will nicht.«
    »Weißt du, was mit mir geschehen wird, edler Hektor, wenn du deinen edlen Tod stirbst und Futter für die achäischen Hunde wirst?«
    Ich sah, wie Hektor zusammenzuckte, aber er schwieg.
    »Ich werde als Hure irgendeines verschwitzten griechischen Befehlshabers verschleppt werden!«, rief Andromache mit so lauter Stimme, dass ich es aus einem halben Block Entfernung hörte. »Als Beute nach Argos entführt, als Sklavin des großen oder des kleinen Ajax, des schrecklichen Diomedes oder eines untergeordneten Hauptmanns, der mich nach Lust und Laune nehmen kann!«
    »Ja«, sagte Hektor mit gequältem, aber festem Blick. »Aber ich werde tot sein, und die Erde über mir wird deine Schreie dämpfen.«
    »Ja, o ja«, rief Andromache. Sie lachte und weinte jetzt gleichzeitig. »Der edle Hektor wird tot sein. Und sein Sohn, den all die Bürger Iliums Astyanax nennen, den ›Herrn der Stadt‹, wird ein Sklave der achäischen Schweine sein, seiner Sklavenhurenmutter entrissen und verkauft. Das wird dein edles Vermächtnis sein, o edler Hektor!«
    Und Andromache rief die Amme näher heran und packte das Kind, hielt es wie einen Schild zwischen sich und Hektor.
    Jetzt sah ich den Schmerz in Hektors Gesicht, aber er streckte die Arme aus und griff nach dem kleinen Jungen. »Komm her, Skamandrios«, sagte Hektor. Er rief ihren Sohn beim Vornamen statt bei dem Spitznamen, den ihm die Stadtbewohner gegeben hatten.
    Der Junge wich zurück und begann zu weinen. Ich hörte sein Gebrüll von meinem hohen Aussichtpunkt ein halbes Dutzend Dächer entfernt.
    Es war der Helm. Hektors Helm. Polierte, glänzende Bronze, mit Blut und Schmutz besudelt, das Sonnenlicht, die verzerrte Brüstung und den Jungen selbst spiegelnd. Der Helm mit seinem flammend roten Rosshaarbusch und seinen monströsen, glänzenden metallenen Schutzbügeln, die sich über Hektors Augen krümmten und seine Nase bedeckten.
    Der Junge schrie und drückte sich an die Brust seiner Mutter. Er hatte Angst vor seinem Vater.
    In einem solchen Moment könnte man glauben, Hektor wäre am Boden zerstört – keine letzte Umarmung von seinem Sohn? –, aber der Krieger lachte, legte den Kopf in den Nacken und lachte erneut, herzlich und lang. Kurz darauf stimmte Andromache in das Gelächter ein.
    Hektor nahm mit einer raschen Bewegung den Kriegshelm ab und stellte ihn auf die Mauer, wo er im Licht der untergehenden Sonne blitzte. Dann hob er mit einer ebenso raschen Bewegung seinen Sohn hoch, umarmte ihn, warf ihn in die Luft und fing ihn wieder auf, bis der Junge nicht vor Angst, sondern vor Begeisterung kreischte. Hektor hielt seinen Sohn in der Beuge seines starken rechten Arms und zog Andromache mit dem linken Arm an sich.
    Lächelnd hob Hektor das Gesicht zum Himmel. »Hört mich an, Zeus und ihr anderen Götter!«
    Die Wachposten und die Frauen auf der Mauer waren verstummt. In den Straßen herrschte eine unheimliche Stille. Hektors kraftvolle Stimme hallte über die Stadt.
    »Gebt, dass dieser mein Sohn hier, der mir viel Freude bereitet, auch so ausgezeichnet werde wie ich vor den Trojanern! Auch so trefflich an Kraft wie sein Vater! Und gebt, o Götter, dass Skamandrios, Hektors Sohn, mächtig in Ilium herrsche, so dass es dereinst heißt: ›Der übertrifft noch den Vater!‹ Dies ist mein Gebet, ihr Götter, und es ist die einzige Gnade, die ich von euch erbitte.«
    Und damit gab Hektor seiner Gemahlin das Kind zurück, küsste beide, stieg von der Mauer herunter und begab sich wieder hinaus aufs Schlachtfeld.
     
    Ich gebe zu, die Stunden nach Hektors Abschied von seiner Frau waren ein Tiefpunkt für mich. Und das Wissen, dass Andromache nächstes Jahr tatsächlich aus der brennenden Stadt in ein anderes Land verschleppt und dort zu einer von vielen Männern begehrten Sklavin gemacht werden würde, verbesserte meine Stimmung nicht gerade. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass der Achäer, der sie gefangen nehmen würde – Pyrrhos, dem es bestimmt war, Ahnherr der Könige vom Stamme der eperiotischen Molosser zu werden und ein

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