Ilium
1972 Seminare an der Indiana University leitete. Wir hatten keine Kinder, aber nicht, weil wir es nicht versucht hätten. Susan lebte noch, als ich an Leberkrebs erkrankte und ins Krankenhaus musste.
Weshalb in Gottes Namen erinnere ich mich jetzt daran? Weshalb erinnere ich mich jetzt, nach neun Jahren fast ohne persönliche Erinnerungen, an Susan? Weshalb werde ich jetzt von den gezackten Scherben meines früheren Lebens geschnitten und gequält?
Ich glaube nicht an Gott und auch nicht an die Götter, auch wenn sie offenkundig aus Fleisch und Blut sind. Für mich sind sie keine wirklichen Kräfte im Universum. Aber ich glaube an eine gehässige Göttin namens Ironie. Sie überdauert alle Zeiten. Sie regiert Menschen, Götter und Gott gleichermaßen.
Und sie hat einen bösartigen Humor.
Wie Romeo, der neben Julia liegt, höre ich den Donner aus dem Südwesten herankommen. Er hallt im Hof wider. Der Wind, der ihm vorangeht, bewegt die Vorhänge vor den Terrassen zu beiden Seiten des großen Schlafgemachs. Helena rührt sich, wacht jedoch nicht auf. Noch nicht.
Ich schließe die Augen und stelle mich noch ein paar Minuten lang schlafend. Meinen Augen tun weh, als hätte ich Sand unter den Lidern. Ich werde zu alt, um so lange wach zu bleiben, besonders nachdem ich dreimal mit der schönsten und sinnlichsten Frau der Welt geschlafen habe.
Nachdem wir Helena und Paris verlassen hatten, folgten wir Hektor zu seinem Haus. Der Held, der so gut wie noch nie vor einem Kampf davongelaufen war, lief vor der Versuchung davon, in die Helena ihn führte, lief nach Hause zu seiner Gemahlin Andromache und ihrem einjährigen Sohn.
Obwohl ich mich seit neun Jahren regelmäßig in Ilium umsah und aufhielt, hatte ich noch nie mit Hektors Frau gesprochen, aber ich kannte ihre Geschichte. Jeder in Ilium kannte ihre Geschichte.
Andromache war selber schön – sicherlich nicht im Vergleich zu Helena oder den Göttinnen, aber auf ihre eigene, menschlichere Weise –, und sie war ebenfalls von königlichem Geblüt. Sie kam aus einem trojanischen Gebiet namens Kilikien in Theben, und ihr Vater, der dortige König, Eëtion, wurde von den meisten bewundert und von allen geachtet. Ihr kleiner Palast stand an den unteren Hängen des Berges Plakos in einem Wald, der für sein Holz berühmt war; das gewaltige skäische Tor von Ilium bestand aus kilikischem Holz, ebenso wie die Türme der Belagerungsmaschinen, die keine drei Kilometer entfernt auf ihren Rädern hinter den griechischen Linien standen.
Achilles tötete ihren Vater. Kurz nach der Landung führte der fußschnelle achäische Männertöter seine Männer gegen die abgelegeneren trojanischen Städte und streckte Eëtion im Zweikampf mit dem Schwert nieder. Am selben Tag tötete er auch Andromaches sieben Brüder, allesamt keine Kämpfer, sondern Schaf- und Rinderhirten. Er suchte sie auf den Feldern und hetzte sie in den felsigen Hügeln unterhalb des Waldes zu Tode. Achilles wollte die männlichen Angehörigen der kilikischen Königsfamilie offenbar bis auf den letzten Rest auslöschen. In dieser Nacht befahl Achilles seinen Männern, Eëtions Leichnam in seine Kriegsrüstung zu kleiden, dann verbrannte er ihn respektvoll und häufte einen Grabhügel über die Asche des alten Königs. Aber die Leichen von Andromaches Brüdern lagen unbehütet in den Feldern und Wäldern, Nahrung für die Wölfe.
Trotz der Reichtümer, die ihm die Plünderung eines Dutzends Städte eingebracht hatte, verlangte Achilles ein buchstäblich königliches Lösegeld für Eëtions Königin – Andromaches Mutter –, und er bekam es. Ilium war damals noch reich und konnte mit den Invasoren verhandeln.
Andromaches Mutter kehrte in die Hallen ihres leeren Palasts in Kilikien zurück, und dort, so hieß es in Andromaches häufigen Erzählungen ihrer traurigen Geschichte, »traf sie Artemis, die pfeilschüttende«.
Nun ja, in gewissem Sinn.
Artemis, Tochter des Zeus und der Leto und Apollos Schwester, ist die Göttin der Jagd – ich habe sie erst gestern auf dem Olymp gesehen –, aber sie ist auch die Göttin, welche die Aufsicht über die Kindsgeburt führt. In der Ilias schleuderte der wütende Apollo seiner Schwester einmal vor ihrem Vater Zeus lauthals entgegen: »Er gab dir Mütter in den Wehen zu töten«, was bedeutet, dass Artemis einerseits für den Tod im Kindbett verantwortlich ist, andererseits auch als göttliche Hebamme für sterbliche Frauen fungiert.
Andromaches Mutter starb neun
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