Ilium
wissen ihre Wahrscheinlichkeitswelle zu schützen, Hockenberry. Leg dich lieber nicht mit ihnen an.«
Nun schaltete ich das Armband ein und blätterte die Hunderte von Männern durch, die ich aufgezeichnet hatte, bis ich denjenigen fand, den ich suchte. Paris. Die Muse hätte mein Dasein wahrscheinlich beendet, wenn sie auch nur gewusst hätte, dass ich Paris als künftigen Morphkandidaten gescannt hatte. Scholiker mischen sich nicht ein.
Wo ist Paris jetzt gerade? Mit dem Daumen über dem Aktivierungs-Symbol versuchte ich mich zu erinnern. Die Ereignisse dieses Nachmittags und Abends – die Konfrontation zwischen Hektor, Paris und Helena, Hektors Treffen mit seiner Frau und seinem Sohn auf der Mauer – fanden alle gegen Ende des sechsten Gesangs der Ilias statt. Oder nicht?
Ich konnte nicht nachdenken. Meine Brust schmerzte vor Einsamkeit. Mir war schwindlig, als hätte ich den ganzen Nachmittag getrunken.
Ja, am Ende des sechsten Gesangs. Hektor verlässt Andromache, und Paris holt ihn ein, bevor er zum Stadttor hinausgeht – oder als er gerade zum Stadttor hinausgeht. Wie hatte es in meiner Lieblingsübersetzung geheißen? » Und auch Paris weilte nicht lang in den hohen Gebäuden.« Helenas neuer Gatte hatte wie versprochen seine Rüstung angelegt und war hinausgeeilt, um sich zu Hektor zu gesellen, und die beiden waren gemeinsam durchs skäische Tor geschritten und hatten sich in den Kampf gestürzt. Ich weiß noch, dass ich einmal einen Vortrag für eine Fachtagung ausgearbeitet hatte, in dem ich Homers Metapher analysierte, Paris habe die Stadt durcheilt »wie wenn ein Pferd im Stall … sein Halfter zerreißt und stampfend über das Feld läuft … und um seine Schultern flattern die Haare der Mähne«, blablabla.
Wo ist Paris jetzt? Nach Einbruch der Dunkelheit? Was habe ich versäumt, während ich durch die Straßen gelaufen bin, zu Helenas Lichtern emporgeschaut und ihre Titten bewundert habe?
Das war im siebenten Gesang, und ich war immer der Ansicht gewesen, dass der siebente Gesang der Ilias ein verwirrendes, zusammengestoppeltes Durcheinander war. Mit ihm endete jener lange Tag, der im zweiten Gesang begonnen hatte; Paris tötete den Achäer namens Menesthios, Hektor schnitt Eioneus die Kehle durch. So viel zu den zärtlichen Umarmungen des Ehegatten und Vaters. Dann gab es weitere Kämpfe, Hektor maß sich im Zweikampf mit dem großen Ajax, und …
Was? Nicht viel. Ajax stand kurz vor dem Sieg – er war der bessere Kämpfer –, aber dann fingen die Götter wieder an, sich über das Ergebnis zu streiten, es gab eine Menge Palaver bei Griechen und Trojanern, ein Haufen Prahlereien gingen hin und her, Hektor und Ajax ließen die Waffen ruhen, tauschten ihre Rüstungen und benahmen sich, als wären sie alte Kumpels, und dann schlossen sie alle einen Waffenstillstand, um die Toten einzusammeln und zu verbrennen, und…
Wo, zum Teufel, ist Paris in dieser Nacht? Bleibt er bei Hektor und dem Heer, um den Waffenstillstand zu überwachen und bei den Bestattungsritualen zu sprechen? Oder verhält er sich eher seinem Charakter gemäß und legt sich zu Helena ins Bett?
»Wen interessiert’s schon«, sagte ich laut, betätigte das Aktivierungssymbol am Armband und verwandelte mich in Paris.
Ich war immer noch unsichtbar, angetan mit dem Hades-Helm, dem Schwebegeschirr und so weiter.
Ich legte den Helm und alles andere außer dem Morpharmband und dem kleinen QT-Medaillon ab, das um meinen Hals hing, und versteckte die Sachen hinter einem Dreifuß in der Ecke des Balkons. Jetzt war ich nur noch Paris in seiner Kriegsrüstung. Ich nahm den Brustharnisch ab und ließ ihn ebenfalls auf dem Balkon liegen. Nun trug Paris nur noch seinen weichen Chiton. Wenn die Muse sich jetzt auf mich stürzte, war ich schutzlos; ich konnte nur noch fortqten.
Ich kehrte durch die Balkonvorhänge ins Bad zurück. Helena blickte überrascht auf, als ich die Vorhänge teilte.
»Mein Gebieter?«, sagte sie, und ich sah zuerst den Trotz in ihren Augen und dann den gesenkten Blick, vielleicht ein Zeichen der Entschuldigung und der Unterwürfigkeit wegen ihrer harschen Worte. »Lasst uns allein«, fuhr sie die Dienerinnen an, und die Frauen gingen mit nassen Füßen hinaus.
Helena von Troja kam langsam die Stufen des Bades herauf auf mich zu. Ihre Haare waren trocken bis auf die nassen Strähnen, die ihr über Schulterblätter und Brüste fielen, den Kopf hielt sie noch immer gesenkt, aber ihre Augen blickten jetzt durch
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