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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Heldengrab in Delphi zu bekommen –, den kleinen »Stadtherrn« von der Brust seiner Amme reißen und von den hohen Mauern werfen würde, sodass er einen blutigen Tod fand. Eben jener Pyrrhos wird auch Hektors und Paris’ Vater, König Priamos, am Altar des Zeus in seinem eigenen Palast ermorden. Das trojanische Königshaus wird in einer Nacht ausgelöscht werden. Der Gedanke ist deprimierend.
    Dies ist keine Rechtfertigung für das, was ich als Nächstes tat, aber vielleicht eine teilweise Erklärung.
    Bis zum Einbruch der Nacht und länger wanderte ich durch Iliums Straßen. Ich fühlte mich einsamer und niedergeschlagener als jemals zuvor in meinen neun Scholikerjahren. Obwohl ich Dolons Gestalt abgelegt hatte, trug ich noch die Kleidung eines trojanischen Lanzenkämpfers – jederzeit bereit, den Hades-Helm sofort aufzusetzen, das QT-Medaillon griffbereit zur sofortigen Flucht. Bald fand ich mich in der Nähe von Helenas Wohnsitz wieder. Ich muss gestehen, dass ich über die Jahre oftmals hier gewesen war; ich zwackte ein wenig Zeit von meinen schulischen Beobachtungen ab und schlich mich heimlich in die Stadt und hierher, nur auf die geringe Chance hin, sie zu sehen … Helena zu sehen, die schönste und charmanteste Frau der Welt. Wie oft hatte ich auf der anderen Straßenseite gestanden, gegenüber von diesem vielstöckigen Gebäudekomplex, wie ein liebeskranker Jüngling nach oben geschaut und gewartet, bis die Lichter in den Wohnungen und auf den Terrassen dort oben angezündet wurden, in der verzweifelten Hoffnung, nur einen einzigen flüchtigen Blick auf die Frau zu erhaschen?
    Plötzlich wurden meine närrischen Träumereien von einem eher erschreckenden Anblick gestört: einem fliegenden Streitwagen, der – unsichtbar für sterbliche Augen, aber sehr wohl sichtbar für mein aufgerüstetes Sehvermögen – langsam über die Straßen und Dächer hinwegglitt. Darin stand meine Muse. Sie beugte sich über die Reling und suchte die Straßen ab. Ich hatte die Muse noch nie in so geringer Höhe über die Stadt oder die Ebene von Ilium fliegen sehen. Mir war klar, dass sie mich suchte.
    Ich setzte eilig den Hades-Helm auf, der mich – wie ich hoffte – vor Göttern und Menschen verbarg. Offenbar funktionierte die Technik, denn der Streitwagen der Muse schwebte keine dreißig Meter über mir vorbei, ohne auch nur einmal langsamer zu werden.
    Als der Streitwagen fort war und über dem zentralen Marktplatz ein Dutzend Blocks weiter östlich kreiste, aktivierte ich die Regler meines Schwebegeschirrs. Alle Scholiker sind mit diesen Geschirren ausgerüstet, aber wir benutzen sie nur selten. Nach den Kampfeswirren eines Tages hatte ich mich mit Hilfe des Schwebegeschirrs oftmals übers Schlachtfeld erhoben, um mir ein umfassenderes Bild der taktischen Lage zu verschaffen, und dann war ich nach Ilium geflogen – hierher, zu Helenas Haus, um ehrlich zu sein –, um ein paar Minuten lang hoffnungsvoll zu gaffen, bevor ich zu meiner Kaserne am Fuß des Olymps zurückqtete.
    Diesmal tat ich das nicht. Ich erhob mich über die Straße, schwebte unsichtbar über die Lanzenkämpfer hinweg, die am Haupteingang von Paris’ und Helenas Wohnsitz Wache standen, überquerte die hohe Mauer und landete auf einem der Balkone im Innenhof vor den Privaträumen des Paares. Mit klopfendem Herzen ging ich durch wehende Vorhänge hinein. Meine Sandalen machten so gut wie kein Geräusch auf dem Steinboden. Die Hunde auf dem Gelände hätten mich entdeckt – den Geruch tarnte der Hades-Helm nicht –, aber sie waren alle im Erdgeschoss und im äußeren Hof, nicht hier oben, wo das königliche Paar wohnte.
    Helena war in ihrem Bad. Drei Dienerinnen betreuten sie. Ihre bloßen Füße hinterließen feuchte Spuren auf den Marmorstufen zu der in einer Vertiefung eingelassenen Wanne, als sie warmes Wasser hinuntertrugen. Das Bad selbst war von Gazevorhängen umgeben, aber da sich die Dreifüße mit den Kohlenbecken und die Hängelampen im Badebereich befanden, stellte der hauchdünne Vorhangstoff kein Sichthindernis dar. Immer noch unsichtbar, stand ich unmittelbar vor dem leise wogenden Stoff und starrte Helena in ihrem Bad an.
    Das also sind die Titten, derentwegen tausend Schiffe in See gestochen sind, dachte ich und verwünschte mich sofort dafür, dass ich so ein Schwachkopf war.
    Soll ich sie Ihnen beschreiben? Soll ich Ihnen erklären, weshalb die Hitze ihrer Schönheit, ihrer nackten Schönheit, Männer über dreitausend Jahre kalter

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