Ilium
benutzen. Die letzten rund zwanzig Klicks zur Basis an der Oberfläche würde er nach dem Abklingen der Gezeitenwoge zurücklegen müssen, aber ihm blieb keine Wahl. Es würde ein höllischer Auftritt werden.
Sofern die Wasserrinne vor ihm nicht von irgendetwas blockiert wurde. Und sofern darin nicht gerade ein anderes U-Boot von der Hauptbasis kam. Das wäre peinlich – für die paar Sekunden, bevor Mahnmut und die Dark Lady zerstört wurden.
Wenigstens würde der Krake keine Rolle mehr spielen. Die Biester kamen höchstens bis auf fünf Klicks an die Eisdecke heran.
Nachdem Mahnmut sämtliche Befehle eingegeben hatte, wandte er sich im Bewusstsein, alles Erdenkliche getan zu haben, um am Leben zu bleiben und rechtzeitig in der Basis einzutreffen, wieder der Analyse seines Sonetts zu.
Mahnmuts U-Boot – das er vor langer Zeit Dark Lady genannt hatte – legte die letzten zwanzig Kilometer bis zur Conamara-Chaos-Hauptbasis in einer kilometerbreiten Wasserrinne zurück, an der Oberfläche des schwarzen Meeres, unter einem schwarzen Himmel. Ein Dreivierteljupiter ging auf, helle Wolken und Wolkenbänder, in denen gedämpfte Farben wogten, während knapp über dem eisigen Horizont ein winziger Io übers Anlitz des emporsteigenden Giganten huschte. Zu beiden Seiten der Wasserrinne ragten mehrere hundert Meter hohe, gebänderte Eisklippen auf, deren lotrechte Wände sich mattgrau und stumpfrot gegen den schwarzen Himmel abhoben.
Aufgeregt rief Mahnmut Shakespeares Sonett auf.
Sonett 116
Nie soll ein Hemmnis reiner Seelen Bund
Im Wege stehn; die Lieb ist Liebe nicht,
Die schwankend wird, schwankt unter ihr der Grund,
Und schon ein einem Treuebruch zerbricht.
Sie ist die Boje, die kein Sturm versenkt,
Die unerschüttert steht im Zeitensturm,
Ist Leitstern, der verirrte Schiffe lenkt.
Was Liebe kann, ermisst kein Astronom.
Liebe ist nicht der Narr der Zeit, die zwar
Selbst Rosen fällt mit ihrem Sichelschlag;
Im flinken Lauf der Zeit unwandelbar
Besteht die Liebe bis zum Jüngsten Tag.
Wenn, was hier steht, sich je als falsch ergibt,
Dann schrieb ich nie, hat nie ein Mensch geliebt.
Im Lauf der Jahrzehnte hatte er dieses Sonett zu hassen begonnen. Solche Sachen hatten die Menschen im Untergegangenen Zeitalter bei Hochzeiten aufgesagt. Es war kitschig. Es war mies. Es war kein guter Shakespeare.
Dann war Mahnmut jedoch auf Mikroaufzeichnungen der kritischen Untersuchungen einer Frau namens Helen Vendler gestoßen – einer Literaturkritikerin, die in einem jener Jahrhunderte gelebt hatte, dem neunzehnten, zwanzigsten oder einundzwanzigsten (die Timestamps der Aufzeichnungen waren ungenau) –, und die hatten ihm einen Schlüssel zur Übersetzung des Sonetts geliefert. Was, wenn Sonett 116 entgegen der jahrhundertelangen Darstellung keine kitschige Bejahung, sondern eine strikte Verneinung war?
Um das zu untermauern, ging Mahnmut noch einmal die »Schlüsselworte« durch, die er sich notiert hatte. Da waren sie, Zeile für Zeile: »nie, nicht, kein, kein, nicht«, und dann, in Zeile vierzehn zweimal »nie«, ein Echo von König Lears nihilistischem »nie, nie, nie«.
Es war eindeutig ein Gedicht der Ablehnung. Aber der Ablehnung wovon?
Mahnmut wusste, dass Sonett 116 zum Zyklus »Der junge Mann« gehörte, aber auch, dass der Ausdruck »Der junge Mann« kaum mehr als ein in späteren, prüderen Jahren hinzugefügtes Feigenblatt war. Die Liebesgedichte waren nicht an einen Mann adressiert, sondern an »den Jüngling« – zweifellos noch fast ein Kind, wahrscheinlich nicht älter als dreizehn. Mahnmut hatte die kritischen Untersuchungen aus der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gelesen. Diese »Kenner« nahmen die Sonette wörtlich, das hieß, sie betrachteten sie als echte homosexuelle Briefe des Theaterautors Shakespeare; wissenschaftlichere Arbeiten in früheren Zeiten und im späteren Teil des Untergegangenen Zeitalters ließen aber erkennen, dass solch politisch motivierte Buchstabentreue kindisch war.
Shakespeare hatte in seinen Sonetten ein Drama konstruiert, davon war Mahnmut überzeugt. »Der Jüngling« und später die »Dark Lady« waren Figuren in diesem Drama. Es hatte Jahre gedauert, die Sonette zu schreiben; sie waren nicht in der Hitze der Leidenschaft hervorgebracht worden, sondern zu einer Zeit, als Shakespeare auf dem Höhepunkt seines Könnens gewesen war. Was erforschte er in diesen Sonetten? Die Liebe. Und wie lauteten Shakespeares »wahre Ansichten«
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