Ilium
über die Liebe?
Niemand würde es jemals erfahren – Mahnmut war sicher, dass der »Barde« zu schlau, zu zynisch und zu verschwiegen gewesen war, als dass er jemals seine wahren Gefühle offenbart hätte. Aber er hatte in einem Stück nach dem anderen gezeigt, auf welche Weise starke Gefühle – unter anderem eben die Liebe – Menschen in Narren verwandelten. Wie sein König Lear liebte auch Shakespeare seine Narren. Viele seiner Figuren ließen sich zum Narren machen – Romeo vom Glück, Hamlet vom Schicksal, Macbeth von seinem Ehrgeiz, Falstaff … nun, Falstaff ließ sich von niemandem zum Narren machen … aber er war verrückt nach der Liebe von Prinz Harry und starb an seinem gebrochenem Herzen, als der junge Prinz sich von ihm abwandte.
Mahnmut wusste, dass der manchmal »Will« genannte »Dichter« in den Sonettzyklen all den hartnäckigen Behauptungen so vieler oberflächlicher Kenner des zwanzigsten Jahrhunderts zum Trotz nicht der historische William Shakespeare war, sondern vielmehr ein weiteres dramatisches Konstrukt, das der Dramatiker/Dichter geschaffen hatte, um alle Facetten der Liebe zu erkunden. Was, wenn dieser »Dichter« wie Shakespeares unglücklicher Graf Orsino verrückt nach Liebe war? Ein Mensch, der in die Liebe selbst verliebt war?
Dieser Ansatz gefiel Mahnmut. Ihm war klar, dass Shakespeares »reiner Seelen Bund« zwischen dem älteren Dichter und dem Jüngling keine homosexuelle Liaison war, sondern ein echtes Mysterium des Gefühls, eine Facette der Liebe, der in früheren Zeiten, lange vor Shakespeare, noch nichts Despektierliches angehaftet hatte. Oberflächlich betrachtet schien Sonett 116 ein banales Eingeständnis dieser Liebe und ihrer Dauerhaftigkeit zu sein, aber wenn es in Wahrheit eine Ablehnung war …
Mahnmut sah auf einmal, inwiefern es passte. Wie so viele große Dichter begann Shakespeare seine Gedichte vor oder nach dem eigentlichen Beginn. Aber wenn dies ein Gedicht der Ahnung war, worauf bezog sich diese? Welche Äußerung des Jünglings gegenüber dem älteren, liebestrunkenen Dichter musste so vehement zurückgewiesen werden?
Mahnmut fuhr Finger seines primären Manipulators aus, nahm seinen Stift und kritzelte auf seine T-Platte:
Lieber Will,
wir fänden es gewiss beide schön, wenn unser Bund reiner Seelen – da Männer nun einmal nicht den sakramentalen Bund der Körper eingeben können – genauso real und dauerhaft wäre wie ein echter Ehebund. Aber das geht nicht. Menschen ändern sich, Will. Umstände ändern sich. Wenn die Eigenschaften der Menschen oder die Menschen selbst nicht mehr da sind, verschwindet auch die Liebe. Ich habe dich einmal geliebt, Will, das habe ich wirklich, aber du hast dich verändert, du hast dich gewandelt, und darum hat sich auch in mir etwas verändert, und unsere Liebe hat sich gewandelt.
Mit den besten Grüßen,
Der Jüngling
Mahnmut schaute auf seinen Brief und lachte, aber das Lachen verging ihm, als er erkannte, wie sich damit das gesamte Sonett 116 veränderte. Es war nun keine süßliche Bejahung unwandelbarer Liebe mehr, sondern eine heftige Gegenwehr gegen den Versuch des Jünglings, die Beziehung zu beenden, ein Widerspruch dagegen, aus solch egoistischen Gründen verlassen zu werden. Nun las sich das Sonett so:
Nie soll als »Hemmnis« reiner Seelen Bund
im Weg mir stehn: Die Lieb sei Liebe nicht,
Die »schwankend wird, schwankt unter ihr der Grund«,
und »schon an einem Treuebruch zerbricht«.
Mahnmut konnte seine Erregung kaum bezähmen. Alles in dem Sonett und in dem gesamten Zyklus ergab auf einmal einen Sinn. Von dieser »Bund reiner Seelen«-Variante der Liebe war kaum noch etwas übrig – fast nur Zorn, Beschuldigungen, Vorwürfe, Lügen und weitere Untreue –, und all das würde im Sonett 126 zum Tragen kommen, in dem »der junge Mann« und die ideale Liebe zugunsten der liederlichen Freuden der »Dark Lady« aufgegeben werden würden. Mahnmut verlagerte sein Bewusstsein in den virtuellen Bereich und codierte eine komprimierte E-Nachricht an Orphu von Io, seinen treuen Gesprächspartner der letzten Dutzend E-Jahre.
Sirenen ertönten. Lichter blinkten in Mahnmuts virtueller Sicht. Eine Sekunde lag dachte er: Der Krake!, aber der würde nie an die Oberfläche kommen oder in eine offene Wasserrinne vordringen.
Mahnmut speicherte das Sonett und seine Notizen, löschte die E-Nachricht aus seiner Bearbeitungsschlange und öffnete externe Sensoren.
Die Dark Lady war fünf
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