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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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legendären Bruch aber nie gesehen.
    Harman legte den Maiskolben hin. »Zu Fuß, Daeman Uhr. Der Bruch verläuft von der Ostküste Nordamerikas direkt am vierzigsten Breitengrad entlang bis nach Europa, wie es die Menschen des Untergegangenen Zeitalters genannt haben – dort, wo er auf Land trifft, lag früher einmal ein Nationalstaat namens Spanien, glaube ich. Die Ruinen der alten Stadt Philadelphia – du kennst sie vielleicht als Knoten 124, Loman Uhrs Anwesen – sind nur einen Fußmarsch von ein paar Stunden vom Bruch entfernt. Wenn ich wirklich mutig gewesen wäre – und genug zu essen eingepackt hätte –, hätte ich zu Fuß nach Spanien gehen können.«
    Daeman nickte lächelnd. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wovon der Mann redete. Zuerst die obszöne Prahlerei mit seinem neunundneunzigsten Lebensjahr, dann dieses ganze Gerede von Breitengraden, Städten des Untergegangenen Zeitalters und Fußmärschen. Niemand ging mehr als ein paar hundert Meter zu Fuß. Wozu auch? Alles, was für Menschen von Interesse war, befand sich in der Nähe eines Faxknotens, und die paar abgelegeneren Kuriositäten – wie zum Beispiel Adas Ardis – erreichte man per Karriole oder Droschke. Daeman kannte Loman natürlich – in dessen weitläufigem Anwesen hatte er kürzlich Onos Dritten Zwanziger gefeiert –, aber ansonsten war Harmans Monolog purer Quatsch. Offenbar hatte der Mann in seinen letzten Tagen den Verstand verloren. Nun, das letzte Klinik-Fax und die Himmelfahrt würden bald Abhilfe schaffen.
    Daeman schaute zu Ada, ihrer Gastgeberin, hinüber und hoffte, sie würde eingreifen, um das Thema zu wechseln, doch Ada lächelte, als fände sie alles, was Harman gesagt hatte, völlig in Ordnung. Daeman blickte sich Hilfe suchend am Tisch um, aber die anderen Gäste hatten höflich zugehört –, sogar mit offenkundigem Interesse –, als gehörte solches Geschwätz zu ihrer regelmäßigen Provinzlerkonversation beim Essen.
    »Die Forelle ist sehr gut, nicht wahr?«, wandte er sich an die Frau zu seiner Linken. »War deine auch gut?«
    Eine stämmige Rothaarige auf der anderen Seite des Tisches, die wahrscheinlich hoch in ihrem Dritten Zwanziger war, stützte ihr äußerst ausgeprägtes Kinn auf die kleine Faust und fragte Harman: »Wie war er? Der Bruch, meine ich?«
    Der tief gebräunte Lockenkopf wehrte ab, aber andere am Tisch – auch die junge Blondine, nach deren Forelle Daeman sich erkundigt und die seine Frage unhöflicherweise ignoriert hatte – forderten ihn lautstark auf zu erzählen. Schließlich sorgte er mit einer eleganten Handbewegung für Ruhe.
    »Falls ihr den Bruch noch nie gesehen habt: Schon vom Ufer aus ist er ein faszinierender Anblick. Er ist ungefähr achtzig Meter breit – eine Spalte, die nach Osten führt, so weit das Auge reicht, und zum Horizont hin immer schmaler wird, bis sie an der Linie, wo Meer und Himmel aufeinander treffen, nur noch ein heller Strich im Wasser ist.
    In diese Spalte zu gehen, ist … ein wenig seltsam. Wo der Bruch am Strand endet, ist der Sand trocken. Die Brandung strömt nicht in ihn zurück. Zuerst konzentriert man sich voll und ganz auf den linken oder rechten Rand – wenn man ungefähr bis zu den Knien hineingeht, merkt man, dass das Wasser abrupt abgeschnitten wird, als würde man durch eine Glaswand von den heranbrandenden und brechenden Wellen getrennt. Man muss die unsichtbare Barriere berühren – das ist wie ein unwiderstehlicher Drang. Sie fühlt sich schwammartig an, kühl vom Wasser auf der anderen Seite, und bei starkem Druck gibt sie ein wenig nach, ist aber undurchdringlich. Man geht tiefer hinein, auf trockenem Sand – über die Jahrhunderte ist der Meeresboden nur vom Regen befeuchtet worden, und darum sind der Sand und der Lehm hart und fest. Die dort verbliebenen Meeresgeschöpfe und Pflanzen sind derart vertrocknet und ausgedörrt, dass sie fast schon wie Versteinerungen wirken.
    Bereits nach zehn bis zwölf Metern reichen einem die abgeschnittenen Wasserwände links und rechts weit über den Kopf. Schatten bewegen sich darin. In der Nähe der Barriere zwischen Luft und Wasser sieht man kleine Fische schwimmen, dann den Schatten eines Hais, dann das fahle Leuchten gallertartiger, schwebender Gebilde, die man nicht richtig identifizieren kann. Manchmal nähern sich die Meeresgeschöpfe der Barriere, stoßen mit ihren kalten Köpfen dagegen und wenden sich dann rasch wieder ab, als hätten sie einen Schrecken bekommen. Ein, zwei

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