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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Kilometer vom Ufer entfernt ragt das Wasser so weit empor, dass der Himmel droben dunkler wird. Etwa zwanzig Kilometer weit draußen sind die Wasserwände zu beiden Seiten über dreihundert Meter hoch. In dem schmalen Stück Himmel, das man noch sieht, kommen selbst bei Tageslicht die Sterne heraus.«
    »Nein!«, entfährt es einem dünnen, rotblonden Mann am anderen Ende des Tisches. Daeman erinnerte sich an seinen Namen – Loes. »Du scherzt.«
    »Nein«, sagte Harman, »keineswegs.« Er lächelte erneut. »Ich bin vier Tage gelaufen. Nachts habe ich geschlafen. Als ich nichts mehr zu essen hatte, bin ich umgekehrt.«
    »Woher wusstest du, ob es Tag oder Nacht war?«, fragte Adas Freundin, die sportliche junge Frau namens Hannah.
    »Der Himmel ist zwar auch am Tag schwarz, und man sieht die Sterne«, sagte Harman, »aber in den Meeresscheiben zu beiden Seiten ist das komplette Lichtspektrum enthalten, von Hellblau ganz oben bis zu trübem Schwarz am Grund auf Höhe des Weges im Bruch.«
    »Hast du irgendetwas Exotisches gefunden?«, wollte Ada wissen.
    »Ein paar gesunkene Schiffe. Uralt. Untergegangenes Zeitalter und früher. Und eines, das … neueren Datums sein könnte.« Er lächelte wieder. »Eines habe ich mir genauer angesehen – einen riesigen, rostigen, auf der Seite liegenden Koloss, der aus der Nordwand des Bruchs herausragt. Ich bin durch ein Loch im Rumpf ins Innere eingedrungen, Leitern hinaufgestiegen und habe mich mit Hilfe einer kleinen, mitgebrachten Laterne auf schräg stehenden Decks nach Norden vorgearbeitet, bis ich auf einmal in einem großen Raum – ich glaube, man nannte ihn Frachtraum – auf die Bruch-Barriere gestoßen bin, eine von Fischen wimmelnde Wasserwand, die von der Decke bis zum schrägen Fußboden reichte. Ich legte das Gesicht an die kalte, unsichtbare Wand und sah Muscheln, Mollusken, Seeschlangen und Lebensformen, die jede Fläche bedeckten und sich voneinander ernährten, aber auf meiner Seite – Trockenheit, alter Rost, und die einzigen Lebewesen waren ich und eine kleine weiße Landkrabbe, die offenbar ebenso wie ich vom Ufer dorthin gewandert war.«
    Ein Wind kam auf und raschelte in den Blättern des hohen Baumes über ihnen. Laternen schwankten, und ihr helles Licht spielte über die Seiden- und Baumwollkleider, die Frisuren, Hände und warm erleuchteten Gesichter am Tisch. Alle waren hingerissen. Selbst Daeman merkte, dass es ihn interessierte, obwohl es purer Unsinn war. Feuer in Kohlebecken entlang des Weges flackerten und knisterten in der plötzlichen Brise.
    »Und was ist mit den Voynixen?«, fragte eine Frau, die neben Loes saß. Daeman konnte sich nicht an ihren Namen erinnern. Emme vielleicht? »Gibt es dort mehr oder weniger als an Land? Wächter oder frei bewegliche?«
    »Keine Voynixe.«
    Alle am Tisch schienen nach Luft zu schnappen. Daeman verspürte einen ganz ähnlichen plötzlichen Schock wie vorhin, als Harman verkündet hatte, er feiere sein neunundneunzigstes Lebensjahr. Ein Schwindel befiel ihn. Vielleicht war der Wein stärker gewesen, als er geglaubt hatte.
    »Keine Voynixe«, wiederholte Ada. Es klang weniger erstaunt als sehnsüchtig. Sie hob ihr Weinglas. »Ein Toast«, sagte sie. Servitoren schwebten näher heran, um Gläser zu füllen. Jeder erhob sein Glas. Daeman blinzelte das Schwindelgefühl weg und zwang sich zu einem freundlichen, leutseligen Lächeln.
    Ada brachte keinen Trinkspruch aus, aber jeder – nach einem Moment sogar Daeman – trank den Wein, als hätte sie es getan.
     
    Der Wind war gegen Ende des Festmahls aufgekommen. Wolken zogen heran und verdeckten den P-Ring und den Ä-Ring, und die Luft roch nach Ozon und den Regenvorhängen, die über die dunklen Hügel nach Westen vorrückten, sodass sich die Gruppe ins Haus zurückzog und dann auflöste; die einzelnen Paare begaben sich auf ihre Zimmer oder in verschiedene Flügel und Räume, um sich zu amüsieren. Im südlichen Wintergarten ließen Servitoren Kammermusik erklingen, der verglaste Swimmingpool im hinteren Teil des Herrenhauses lockte ein paar Gäste an, und im Runderker der Aussichtsveranda im ersten Stock war ein Mitternachtsbuffet aufgebaut. Einige Paare zogen sich in ihre Privatgemächer zurück, um sich mit Sex zu vergnügen, andere wiederum suchten sich ein ruhiges Plätzchen, um ihre Turiner zu entfalten und sich nach Troja begeben.
    Daeman schloss sich Ada an, die Hannah und dem Mann namens Harman die Bibliothek im zweiten Stock zeigen wollte. Wenn

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