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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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würgend fuhr Daeman herum und versuchte, diese Sehweise abzuschalten, aber die Komplexität war überall – die farblich gekennzeichnete, unablässige Ebbe und Flut von weitergegebener Energie, aufgenommenen Nährstoffen, ernährten Zellen, Molekülen, die in den durchsichtigen Bäumen tanzten, die atmende Erde und der Himmel, der von seinem an- und abschwellenden Sonnenlichtregen und den Radiobotschaften von den Sternen erstrahlte.
    Daeman schlug die Hände vor die Augen, aber zu spät; er hatte Savi angesehen – die alte Frau, aber auch eine Galaxie des Lebens. Leben nistete in den wetterleuchtenden Neuronen ihres Gehirns hinter diesem grinsenden Totenschädel, in den aufzuckenden Blitzen der Impulse in den Nervenzellen ihrer Retina und in den Abermilliarden Lebensformen in ihrem Gedärm, allesamt geschäftig und gleichgültig, und … als Daeman den Blick abzuwenden versuchte, beging er den Fehler, an sich selbst hinunterzuschauen, in sich selbst hinein, vorbei an sich selbst, auf seine Verbindung zur Luft, zum Boden und zum Himmel …
    »Aus!«, sagte Savi; der Befehl hallte in Daemans Bewusstsein wider.
    Der strahlende mittägliche Sonnenschein, der von den Bäumen und der mit Nadeln übersäten Erde zurückgeworfen wurde, kam Daeman auf einmal so dunkel vor wie um Mitternacht.
    Seine Beine versagten ihm den Dienst. Keuchend rutschte er am Rand des Sonies entlang und brach zusammen, rollte sich auf den Bauch, breite die Arme aus, legte die Handflächen flach auf den Boden und drückte das Gesicht in die Nadeln.
    Savi hockte sich neben ihn und tätschelte ihm die Schulter. »Das geht gleich wieder weg«, sagte sie sanft. »Bleib hier liegen. Ich suche die anderen.«
     
    Ada hatte zunächst gezögert, als Harman vorschlug, einen Spaziergang zu machen – sie befürchtete, Savi könnte bei ihrer Rückkehr zur Lichtung wütend oder beunruhigt sein, weil fast alle fort waren –, aber Hannah war bereits losgelaufen, um Odysseus zu suchen, und Ada wollte nicht allein mit Daeman beim Sonie bleiben. Außerdem wusste sie nicht, ob sie noch eine weitere Gelegenheit haben würde, mit ihrem neuen Geliebten unter vier Augen zu sprechen, bevor sie nach Ardis zurückkehrte und er mit Savi zu diesem Mittelmeerbecken flog.
    Sie gingen einen Hügel hinauf und folgten dann auf der anderen Seite einem Flusslauf. Überall zwitscherten Vögel, aber sie sahen keine Tiere, die größer waren als Eichhörnchen. Harman wirkte geistesabwesend und gedankenverloren, und er berührte Ada nur ein einziges Mal, nämlich als er die Hand ausstreckte, um ihr direkt über einem drei Meter hohen Wasserfall über den Fluss zu helfen. Sie fragte sich, ob ihre gemeinsame Nacht ein Fehler gewesen war, ob sie die Dinge falsch eingeschätzt hatte, doch als sie am Fuß des Wasserfalls eine kurze Pause einlegten, sah sie, wie er den Blick auf sie richtete, sah die Zuneigung und die Zärtlichkeit in seinen Augen und war froh, dass sie ein Liebespaar geworden waren.
    »Ada«, sagte er, »kennst du deinen Vater?«
    Sie machte ein erstauntes Gesicht. Die Frage war nicht direkt schockierend – die Menschen wussten natürlich, dass sie Väter hatten, theoretisch –, aber so etwas wurde man relativ selten gefragt. »Meinst du, ob ich weiß, wer er war?«, fragte sie.
    Harman schüttelte den Kopf. »Ich meine, ob du ihn kennst. Bist du ihm jemals begegnet?«
    »Nein«, sagte sie. »Meine Mutter hat mir einmal seinen Namen genannt, aber ich glaube, er … hat vor einigen Jahren seinen Fünften Zwanziger erreicht.« Fast hätte sie gesagt: Er ist zu den Ringen aufgefahren, der gebräuchlichste Euphemismus für den körperlichen Übergang in den Himmel der Nachmenschen. Mit klopfendem Herzen überlegte sie, weshalb Harman ihr diese seltsame Frage stellte. Dachte er, er könnte ihr Vater sein? So etwas kam natürlich vor. Junge Frauen schliefen häufig mit älteren Männern, die womöglich ihre anonymen Spermväter waren – Inzest war nicht mit einem Tabu belegt, weil aus einer solchen Vereinigung kein Kind hervorgehen konnte, und es gab keine Brüder oder Schwestern, weil jede Frau sich nur ein einziges Mal fortpflanzen konnte – aber es war seltsam verwirrend, darüber nachzudenken.
    »Ich wusste nicht, wer mein Vater war«, erklärte Harman. »Savi hat gesagt, Väter seien irgendwann einmal – sogar noch nach dem Untergegangenen Zeitalter – fast so wichtig für Kinder gewesen wie heute die Mütter.«
    »Das ist schwer vorstellbar.« Ada war noch immer

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