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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Untergegangenen Zeitalters wusste. Aber sie waren ihm ohnehin völlig gleichgültig.
    Savi schwieg eine Minute. Daeman fand, dass sie müde aussah, aber vielleicht sahen alle alten Menschen aus der Zeit vor der Klinik so schlecht aus – er wusste es nicht.
    »Wir sollten sie holen gehen«, sagte sie schließlich. »Ich übernehme Hannah und Odysseus, du holst Ada und Harman. Schalte deine Handfläche auf Proxnet und aktiviere deinen Sucher auf die übliche Weise, dann führt er dich zu ihnen. Sag ihnen, der Bus fährt ab.«
    Daeman hatte keine Ahnung, was »Bus« bedeutete, aber das war nicht wichtig. »Gibt es noch weitere Funktionen?«, fragte er, bevor sie losgehen konnte.
    »Hunderte.«
    »Zeig mir eine«, verlangte Daeman. Er glaubte ihr nicht – Hunderte waren es bestimmt nicht –, aber schon ein oder zwei weitere würden ihn bei Partys beliebt und für junge Frauen interessant machen.
    Savi seufzte und lehnte sich wieder ans Sonie. Ein Wind war aufgekommen und bewegte die Zweige der Sequoia hoch über ihnen. »Ich kann dir die Funktion zeigen, die die Nachmenschen schließlich von der Erde vertrieben hat«, sagte sie leise. »Das Allnet.«
    Daeman ballte die Hand erneut zur Faust und zog sie weg. »Nicht, wenn es gefährlich ist.«
    »Ist es nicht«, sagte Savi. »Nicht für uns. Pass auf, ich fange an.« Sie drückte seinen Arm herunter, zog ihm die Finger auf und berührte seine Handfläche auf eine Weise, die er beinahe erregend fand. Dann legte sie ihre linke Handfläche an seine.
    »Stell dir vier blaue Rechtecke vor, darunter drei rote Kreise, darunter vier grüne Dreiecke«, sagte sie leise.
    Daeman runzelte die Stirn. Das war schwierig; die Formen flirrten an der Grenze seiner Fähigkeit, das Bild festzuhalten, aber schließlich gelang es ihm, mit geschlossenen Augen.
    »Öffne die Augen«, sagte Savi.
    Er gehorchte und griff eine Sekunde später hektisch mit beiden Händen nach dem Sonie, um sich daran festzuhalten.
    Über seiner Handfläche war keine Wolke. Keine unleserliche Karte oder Zeichentrickfigur.
    Stattdessen hatte sich alles in seinem Blickfeld verwandelt. Die Bäume um ihn herum, die er nur als Schattenspender wahrgenommen hatte, waren jetzt hoch aufragende, komplexe, transparente Gebilde – Schicht um Schicht pulsierenden, lebendigen Gewebes, tote Rinde, Blasen, Adern, totes inneres Material, das strukturelle Vektoren und Ringe mit in permanenter Veränderung begriffenen Datenkolonnen zeigte, das sich bewegende Grün und Rot des Lebens – Nadeln, Xylem, Phloem, Wasser, Zucker, Energie, Sonnenlicht. Er wusste, wenn er die Daten lesen könnte, würde er die Hydrologie des lebendigen Wunders, das dieser Baum war, exakt verstehen, würde genau wissen, wie viele Joule Druck erforderlich waren, um all dieses Wasser osmotisch aus den Wurzeln hochsteigen zu lassen – wenn er hinunterschaute, sah er die Wurzeln unter dem Erdreich, den Energieaustausch des Wassers vom Erdreich in diese Wurzeln und seine lange Reise von den Wurzeln in die vertikalen Tubuli, die dieses Wasser emporsteigen ließen – senkrecht, Dutzende von Metern! Als ob ein Riese an einem Strohhalm saugte! – und dann seitwärts, Wassermoleküle in Leitungsbahnen mit einem Durchmesser von wenigen Molekülen, hinaus in Äste, die fünfzehn, zwanzig, fünfundzwanzig Meter lang waren und dünner wurden, immer dünner, das Leben und die Nährstoffe in diesem Wasser, die Energie von der Sonne …
    Daeman schaute nach oben und sah das Sonnenlicht als den diskreten Energieregen, der es war – Sonnenlicht traf auf die Nadeln der Bäume und wurde absorbiert, Sonnenlicht traf auf den Humus unter seinen Füßen und wärmte die dortigen Bakterien. Er konnte die eifrigen Bakterien zählen! Die Welt um ihn herum war ein Sturzbach aus Informationen, eine Gezeitenwelle aus Daten, eine Million Mikroökologien, die alle zugleich interagierten, Energie mit Energie. Selbst der Tod war ein Teil des komplexen Tanzes von Wasser, Licht, Energie, Leben, Recycling, Wachstum, Sex und Hunger, der überall um ihn herum stattfand.
    Daeman sah eine tote Maus, die im Humus auf der anderen Seite der Lichtung fast begraben war, kaum noch mehr als Haare und Knochen, aber dennoch ein Leuchtfeuer roter Energie, während die Bakterien sich an ihr gütlich taten und die Fliegeneier im nachmittäglichen Sonnenschein zu Maden heranreiften und die langsame Aufräufelung komplexer Proteinmoleküle auf der molekularen Ebene weiterging und …
    Keuchend, beinahe

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