Ilium
dieser gewaltigen Abweichung vom Handlungsverlauf der Ilias.
Selbst wenn Achilles nicht am Kampf teilnimmt, muss er überredet werden zu bleiben, damit die Ilias sich wie vorgesehen weiter entwickelt: Die Trojaner siegen erneut, die Griechen, deren große Führer – Odysseus, Agamemnon, Menelaos, Diomedes – allesamt verwundet sind, ziehen sich gänzlich zurück, dann legt Patroklos, der Mitleid mit seinen Freunden hat und weiß, dass Achilles sich niemals am Kampf beteiligen wird, Achilles’ goldene Rüstung an und schlägt die Trojaner zurück, bis er im Zweikampf mit Hektor ums Leben kommt; sein Leichnam wird geschändet und entweiht. Das bringt Achilles voller mörderischem Zorn aus seinem Zelt, und das Schicksal von Hektor, Ilium, Andromache, Helena und uns allen ist besiegelt.
Fährt er wirklich heim? Ich kann es einfach nicht fassen. Nicht nur, dass ich den Angelpunkt nicht gefunden und keinerlei Veränderung bewirkt habe, jetzt ist auch noch die gesamte Ilias aus der Bahn geraten. Über neun Jahre war ich als Scholiker hier, habe zugesehen, beobachtet und der Muse Bericht erstattet, und kein einziges Mal hat es eine tiefe Kluft zwischen den Ereignissen in diesem Krieg und Homers Bericht in seinem Versepos gegeben. Und nun … das. Wenn Achilles heimfährt, und alles spricht dafür, dass er genau das bei Tagesanbruch tut, werden die Achäer besiegt, ihre Schiffe verbrannt, Ilium gerettet, und Hektor, nicht Achilles, wird der große Held des Epos sein. Auch Odysseus’ Odyssee wird dann wohl kaum stattfinden … und schon gar nicht so, wie sie besungen worden ist. Alles hat sich verändert. Nur, weil der echte Phönix nicht hier war, um seine echte Rede zu halten? Oder haben die Götter an diesem Angelpunkt herumgespielt, bevor ich Gelegenheit dazu hatte? Ich werde es nie erfahren. Meine Chance, Achilles und Odysseus bei der Beratung zu überreden, mein schlauer Plan sind ein für alle Mal dahin.
»Komm, alter Phönix.« Patroklos fasst mich am Arm wie ein Kind und führt mich in einen Nebenraum in dem großen Zelt, wo meine Kissen und Decken ausgebreitet sind. »Es ist Zeit, zu Bett zu gehen. Morgen ist auch noch ein Tag.«
31
Jerusalem
»Was ist das?«, fragte Harman. Er und Daeman standen im Schatten der Westmauer in Jerusalem, nur ein paar Schritte hinter Savi, und alle drei starrten zu dem mächtigen Strahl aus blauem Licht hinauf, der senkrecht in den dunkler werdenden Himmel stach.
»Ich glaube, das sind meine Freunde«, sagte die alte Frau. »Meine neuntausendeinhundertdreizehn Freunde – all die Altmenschen, die beim letzten Fax hinweggerafft wurden.«
Daeman sah Harman an und stellte fest, dass auch er an Savis Geisteszustand zweifelte.
»Deine Freunde?«, sagte Daeman. »Das ist ein blaues Licht.«
Savi riss ihren Blick von dem Strahl los – er erhellte nun die oberen Bereiche der alten Gebäude und Mauern um sie herum und tauchte alles in einen blauen Schein, als das Tageslicht weiter schwand – und sah sie mit einem wehmütig wirkenden Lächeln an. »Ja. Dieser blaue Lichtstrahl. Meine Freunde.« Sie bedeutete ihnen mit einer Handbewegung, ihr zu folgen, und führte sie aus dem Hof, weg von der Mauer, den gleichen Weg zurück, den sie gekommen waren, fort von dem Ausgangspunkt des blauen Lichtstrahls.
»Die NMs haben uns erzählt, das letzte Fax sei eine Methode, uns zu speichern, während sie die Welt säuberten«, fuhr Savi fort. Ihre Stimme war leise, hallte aber dennoch in den engen Gassen wider. »Der Plan bestand ihren Worten zufolge darin, unsere Codes zu reduzieren – schon damals waren wir für die Nachmenschen allesamt Faxcodes, meine Freunde –, unsere Codes zu reduzieren und uns für zehntausend Jahre in eine Neutrino-Endlosschleife zu versetzen, während sie den Planeten reinigten.«
»Was heißt das?«, fragte Harman. »Den Planeten reinigen?«
Sie gingen unter einem langen Bogengang hindurch, und Daeman konnte Savis Gesicht nur andeutungsweise erkennen, als sie wieder lächelte. »Gegen Ende des Untergegangenen Zeitalters gab es einige ziemlich schlimme Entwicklungen«, sagte sie. »Und nach dem Rubikon wurde alles noch schlimmer. Dann kam die Zeit des Wahnsinns. Freischaffende ERNisten erweckten Dinosaurier, Terrorvögel und längst ausgestorbene botanische Formen wieder zum Leben und zerstörten die Ökologie des Planeten, als die Biosphäre und die Datasphäre gerade zur ichbewussten Noosphäre zu verschmelzen begannen – der Logosphäre. Die Nachmenschen
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