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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Erstaunliches – er gesteht, seine Mutter, die Göttin Thetis, habe ihm erzählt, ein zweifaches Geschick begleite ihn bis zum Tag seines Todes: Er könne hier bleiben, um die Festung der Trojaner kämpfen und Hektor töten, aber dann stürbe er selbst binnen weniger Tage. Dies werde ihm ewigen Ruhm in der Erinnerung von Menschen und Göttern gleichermaßen eintragen. Sein anderes Los liege in der Flucht – wenn er heimführe, werde er zwar seinen Stolz verlieren und seinen Ruhm einbüßen, aber ein langes, glückliches Leben führen. Er könne wählen, habe ihm seine Mutter vor Jahren erzählt.
    Und er, so erklärt Achilles uns jetzt, wähle das Leben. Dieser … dieser … Held, diese Ansammlung von Muskeln und Testosteron, diese lebende Legende von einem Halbgott … er zieht das Leben dem Ruhm vor! Odysseus macht ein ungläubiges Gesicht, Ajax starrt ihn mit offenem Mund an.
    »Ihr aber, Odysseus und Ajax, meine beiden Brüder«, fährt Achilles fort, »geht nun hin zu den edelsten Führern Achäas und richtet ihnen aus, was ich gesagt habe. Sollen sie sich einen anderen, besseren Plan überlegen, die bauchigen Schiffe und die Männer zu retten, die morgen um diese Zeit zu den brennenden Rümpfen zurückgedrängt werden. Unser schweigsamer Phönix hier indes …«
    Ich fahre zehn Zentimeter von dem roten Kissen hoch, als er sich mir zuwendet. Ich hatte vollkommen vergessen, dass wir uns in einem Gespräch befinden, so vertieft war ich in die gedankliche Vorbereitung meiner Rede und in deren moralische Implikationen.
    »Phönix«, sagt Achilles mit nachsichtigem Lächeln, »während Odysseus und Ajax ihrem Herrn Bericht erstatten müssen, steht es dir frei, dich hier bei Patroklos und mir zur Ruhe zu legen und morgen bei Anbruch der Dämmerung mit uns heimzufahren. Aber nur, wenn du es willst … niemals zwänge ich jemanden, mit uns zu kommen.«
    Das ist meine Chance, das Wort zu ergreifen. Ohne Odysseus’ finstere Blicke zu beachten, schaue ich mich um, stehe unbeholfen auf und räuspere mich, um zu Phönix’ langer Rede anzuheben. Wie fängt sie an? So viele Jahre habe ich sie studiert und in meinen Seminaren behandelt, habe die Nuancen jedes griechischen Wortes gelernt, und nun ist mein Kopf völlig leer.
    Ajax erhebt sich. »Während dieser alte Narr sich darüber klar zu werden versucht, ob er mit dir fortlaufen soll oder nicht, Achilles, sage ich dir, dass du ein ebensolcher Narr bist wie der alte Phönix!«
    Achilles, der Männertöter, der keine persönliche Beleidigung duldet, der Held, der lieber all seine achäischen Freunde dem Tod überantwortet, als sich wegen eines Sklavenmädchens von Agamemnon demütigen zu lassen, lächelt nur über Ajax’ unverblümte Beleidigung und zieht eine Augenbraue hoch.
    »Für eine einzige Frau, die du nicht einmal haben kannst, auf den Ruhm und zwanzig schöne Frauen zu verzichten … pah!«, ruft Ajax und wendet sich ab. »Komm, Odysseus, diese Lichtgestalt hat niemals von der Milch menschlicher Freundschaft getrunken. Überlassen wir ihn seinem Zorn und überbringen wir unsere düstere Botschaft den wartenden Achäern. Der morgige Sonnenaufgang kommt bald genug, und ich jedenfalls brauche noch ein wenig Schlaf vor dem Kampf. Wenn ich morgen schon sterben soll, will ich nicht müde sterben.«
    Odysseus steht mit einem Nicken auf, nickt noch einmal Achilles zu und folgt dem großen Ajax aus dem Zelt.
    Ich stehe mit offenem Mund da, bereit, Phönix’ lange, dreiteilige Rede – diese kluge Rede! – mit meinen klugen Verbesserungen und verborgenen Zielsetzungen zu halten.
    Patroklos und Achilles erheben sich, strecken sich und wechseln einen Blick. Offenbar haben sie diese Gesandtschaft erwartet, und beide wussten im Voraus, wie Achilles’ schockierende Antwort ausfallen würde.
    »Phönix, altes, zeusgenährtes Väterchen«, sagt Achilles mit warmer Stimme, »ich weiß nicht, was dich in dieser stürmischen Nacht in Wahrheit hergeführt hat, aber ich erinnere mich noch gut, wie du mich, als ich noch klein war, nach den Unterrichtsstunden hochgehoben und zu meinem Bett getragen hast. Bleib heute Nacht hier, Phönix. Patroklos und Automedon werden dir ein weiches Lager bereiten. Morgen früh fahren wir heim, und du kannst mitkommen … oder auch nicht.«
    Er verabschiedet sich mit einer Handbewegung und begibt sich in sein Schlafgemach im hinteren Teil des Zeltes, und ich stehe hier wie der Narr, der ich bin, sprachlos in jeder Hinsicht, ganz überwältigt von

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