Ilium
uns alle satt gegessen haben – die leeren Teller sind beiseite geschoben, in den Körben sind nur noch Brotkrusten übrig – und uns gerade den dritten Becher Wein einschenken wollen, sehe ich, wie Ajax Odysseus kaum merklich zunickt.
Der Listenreiche versteht den Wink und hebt seinen Becher, um einen Trinkspruch auf Achilles auszubringen.
»Auf deine Gesundheit, Achilles!«
Wir trinken alle, und der junge Held neigt zum Dank seinen blonden Schopf.
»Wie ich sehe, fehlt es uns an nichts«, fährt Odysseus fort. Seine Stimme ist verblüffend tief und leise, beinahe einschmeichelnd. Von allen großen Achäerführern ist dieser bärtige Mann der gewinnendste und verschlagenste. »Es fehlt uns an nichts, weder im Lager Agamemnons noch hier im Hause des Peleussohnes. Aber heute Nacht geht es uns nicht um die reiche Mahlzeit, sondern wir erblicken ein schreckliches Leid, das die Götter willentlich über uns gebracht haben, und sind darum in Furcht.«
Odysseus spricht langsam weiter, mit geschliffenen Worten, übereilt nichts und zielt kaum je auf rhetorische Effekte ab. Er schildert die Niederlage am Nachmittag, den Sieg der Trojaner, die Panik der Achäer, ihren Wunsch, die Flucht zu ergreifen, und Zeus’ Mittäterschaft.
»Die stolzen Trojaner und ihre berühmten Genossen haben ihr Lager nur einen Steinwurf von unseren Schiffen bezogen, Achilles«, fährt Odysseus fort. Er spricht, als hätte Achilles all das nicht schon von Patroklos, Automedon und seinen anderen Freunden erfahren. Oder es einfach von der Anhöhe vor seinem Zelt aus beobachtet.
»Nichts kann sie mehr aufhalten, prahlen sie, und ihre abertausend Wachtfeuer unterstreichen bedrohlich ihre Prahlerei. Beim ersten Tageslicht wollen sie diese Flammen zu unseren Schiffen bringen, sich dann auf die geschwärzten Rümpfe stürzen und die Überlebenden niedermachen. Und Zeus, der Kronide, schickt ihnen ermutigende Zeichen, Blitze schlagen in unserem linken Flügel ein, und Hektor, der seiner Kräfte sich rühmt, wütet schrecklich. Er fürchtet nichts, Achilles, weder Männer noch Götter. Hektor ist wie ein tollwütiger Hund, und die Dämonen der Katalepsis haben ihn in ihrer Gewalt.«
Odysseus hält inne. Achilles schweigt. Seine Miete verrät nichts. Sein Freund Patroklos beobachtet ihn die ganze Zeit, aber der Held wirft ihm nicht einmal einen Blick zu. Achilles wäre ein höllisch guter Pokerspieler.
»Hektor kann es kaum erwarten, dass die heilige Eos erscheint«, fährt Odysseus fort. Seine Stimme ist jetzt noch leiser. »Denn er droht, bei der ersten Morgenröte die Spitzen vom Heck unsrer Schiffe zu hauen, sie im fressenden Feuer zu verbrennen und, wenn all unsere Kameraden in den brennenden Rümpfen gefangen sind, uns Achäer bis zum letzten Mann niederzumetzeln. Ein Albtraum, Achilles – ich fürchte es von ganzem Herzen –, ich fürchte, die Götter könnten es ihm in die Hand geben, die Drohung wahr zu machen, und uns sei beschieden, hier auf der Ebene von Ilium unterzugehen, fern der Hügel und Pferdeweiden von Argos.«
Achilles schweigt, als Odysseus erneut innehält. Die erkaltende Kohle knistert. Irgendwo, mehrere Zelte entfernt, spielt jemand ein Trauerlied auf einer Leier. Aus der anderen Richtung kommt das betrunkene Lachen eines Soldaten, der sich offenbar für todgeweiht hält.
»Auf denn, Achilles«, sagt Odysseus und erhebt endlich die Stimme. »Erhebe dich jetzt mit uns, und sei’s auch die elfte Stunde, wenn du die todgeweihten Söhne Achäas aus dem Getümmel der Trojaner zu retten gedenkst.«
Und er bittet Achilles, von seinem Zorn abzulassen, und beschreibt ihm Agamemnons Angebot mit denselben Worten, mit denen dieser seine unberührten Dreifußkessel, zwölf Rennpferde und so weiter und so fort aufgelistet hat. Ich finde, er verweilt ein bisschen zu lange bei der Beschreibung der unbestiegenen Briseis und der trojanischen Frauen, die darauf warten, geschändet zu werden, und bei Agamemnons drei schönen Töchtern, aber er endet mit einem leidenschaftlichen Resümee und erinnert Achilles an den Rat seines Vaters, an Peleus’ Ermahnung, Freundschaft über Streit zu stellen.
»Aber wenn der Atride zu sehr dir im Herzen verhasst ist, als dass du diese Gaben annehmen würdest«, schließt Odysseus, »erbarme dich doch all der übrigen Achäer. Zieh mit uns in den Kampf und rette uns, und wir werden wie einen Gott dich ehren. Und bedenke, wenn dein Zorn dich am Kampfe hindert – wenn deine Verachtung dich über das
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