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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Schwanengesang, bevor die Nanozyten auf explosive Weise Schluss mit mir machen.
    Ich habe meinen Studenten damals immer beigebracht, dass es neun Musen gab, allesamt Töchter von Mnemosyne – Klio, Euterpe, Thalia, Melpomene, Terpsichore, Erato, Polyhymnia, Urania und Kalliope –, die zumindest in der späteren griechischen Überlieferung jeweils für eine künstlerische Ausdrucksform wie Flötenspiel, Tanz, Geschichtenerzählen oder Heldenlieder zuständig waren – aber in den neun Jahren, zwei Monaten und achtzehn Tagen, in denen ich den Göttern nun schon als Beobachter auf der Ebene von Ilium diene, habe ich nur einer Muse Bericht erstattet, nur eine gesehen und auch nur von einer gehört – dieser hoch gewachsenen Göttin nämlich, die jetzt hinter ihrem Marmortisch vor mir sitzt. Trotzdem war sie für mich wegen ihrer schrillen Stimme immer »Kalliope«, obwohl der Name ursprünglich »die Schönstimmige« bedeutete. Ich kann nicht gerade behaupten, dass diese Solo-Muse eine schöne Stimme besitzt – für mich ist sie eher ein Signalhorn als eine Kalliope –, aber jedenfalls habe ich gelernt, nach ihrer Pfeife zu tanzen.
    »Folge mir«, sagt sie, erhebt sich mit einer fließenden Bewegung und verschwindet durch die Tür auf der privaten Seite ihres weißen Marmorzimmers. Ich springe auf und folge ihr.
    Die Muse hat Götterformat – das heißt, sie ist weit über zwei Meter groß, aber perfekt proportioniert, nicht so üppig wie manche Göttinnen, sondern gebaut wie eine Triathletin im zwanzigsten Jahrhundert –, und selbst in der geringeren Schwerkraft hier auf dem Olymp muss ich mich beeilen, um mit ihr Schritt zu halten, als sie über den kurz gestutzten grünen Rasen zwischen den weißen Gebäuden schreitet.
    An einem Streitwagennexus bleibt sie stehen. Ich sage »Streitwagen«, und das Gefährt hat auch eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Streitwagen – es ist niedrig, ungefähr hufeisenförmig, und hat an der Seite eine Einbuchtung zum Aufsteigen, aber weder Pferde, Zügel noch Lenker. Die Muse steigt auf, hält sich am Handlauf fest und winkt mich zu sich.
    Zögernd und mit heftigem Herzklopfen steige ich auf und bleibe an der Seite stehen, während die Muse mit ihren langen Fingern auf einem goldenen Keil herumtippt, der eine Art Armaturenbrett sein könnte. Lichter blinken. Der Streitwagen summt, knistert und ist auf einmal von einem Energiegitter umgeben. Er hebt vom Gras ab und dreht sich im Steigen. Plötzlich erscheinen zwei holografische »Pferde« vor dem Streitwagen, die ihn galoppierend durch den Himmel zu ziehen scheinen. Ich weiß, die holografischen Pferde sollen das Bedürfnis der Griechen und Trojaner nach innerer Geschlossenheit erfüllen, aber der Eindruck, dass es echte Tiere sind, die einen echten Streitwagen durch den Himmel ziehen, ist sehr stark. Ich halte mich an der Metallstange fest, die am Rand entlang verläuft, und mache mich bereit, aber man spürt keine Beschleunigung, nicht einmal als die Transportscheibe in der Luft hüpft und tanzt, in dreißig Metern Höhe über den bescheidenen Tempel der Muse hinwegsaust und in Richtung der tiefen Senke des Caldera-Sees beschleunigt.
    Ich habe diese Streitwagen natürlich tausendfach in der Nähe des Olymps oder über der Ebene von Ilium herumfliegen sehen, wenn die Götter in ihren göttlichen Geschäften unterwegs waren, aber immer nur von meinem Standort am Boden aus. Aus dieser Perspektive wirken die Pferde real, und der Streitwagen selbst scheint weit weniger stofflich zu sein, wenn man darin steht und in dreihundert Metern Höhe über den Gipfel eines Berges – oder vielmehr eines Vulkans – hinwegzischt, der seinerseits rund 26 Kilometer über den Wüstenboden aufragt.
    Der Gipfel des Olymps müsste eigentlich im luftleeren Raum liegen und von Eis bedeckt sein, aber hier oben ist die Luft genauso dicht und atembar wie rund 26 Kilometer weiter unten, wo die Kaserne der Scholiker am Fuß der Vulkanklippen kauert, und der ausladende Gipfel ist nicht von Eis, sondern von Gras, Bäumen und weißen Gebäuden bedeckt, die so groß und grandios sind, dass die Akropolis ihnen gegenüber wie ein Nebengebäude wirkt.
    Der wie eine Acht geformte Caldera-See mitten auf dem Gipfel des Olymps hat einen Durchmesser von beinahe hundert Kilometern, und wir brausen fast mit Überschallgeschwindigkeit über ihn hinweg. Ein Kraftfeld oder ein göttlicher Zauber verhindert, dass der Wind uns den Kopf abreißt, und dämpft zugleich den

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