Ilium
Lärm. Hunderte von Gebäuden, alle von mehreren Hektar großen, sorgfältig gepflegten Rasenflächen und Gärten umgeben – die Heimstätten der Götter, nehme ich an –, stehen am See, und riesige Autotriremen mit drei Decks ziehen langsam über das blaue Wasser. Der Scholiker Bruster Lin hat mir einmal erklärt, seiner Schätzung nach sei der Olymp so groß wie Arizona, und sein grasbewachsener Gipfel habe ungefähr dieselbe Fläche wie Rhode Island. Es war ein merkwürdiges Gefühl, solche Vergleiche mit Staaten auf jener anderen Welt, in jener anderen Zeit, aus jenem anderen Leben zu hören.
Ich halte mich mit beiden Händen an der schmalen Reling fest und spähe über den Berggipfel hinaus. Der Blick ist atemberaubend.
Wir sind so hoch oben, dass ich die Krümmung der Welt sehen kann. Im Nordwesten erstreckt sich der gewaltige blaue Ozean bis zur Sichel des Horizonts. Im Nordosten verläuft die Küstenlinie, und ich bilde mir ein, selbst aus dieser Entfernung die großen Steinköpfe sehen zu können, die die Grenze zwischen Meer und Land markieren. Genau im Norden liegt die Sichel des namenlosen Archipels, das von der ein paar Kilometer von unserer Scholiker-Kaserne entfernten Küste aus gerade noch zu sehen ist, dann wieder nichts als Blau bis zum Pol. Im Südosten sehe ich drei weitere hohe Vulkangipfel über den Horizont ragen; sie sind offenbar nicht so hoch wie der Olymp, aber im Gegensatz zu dessen klimatisiertem Gipfel weiß vom Schnee. Einer von ihnen muss wohl der Berg Helikon sein, das Zuhause meiner Muse und ihrer Schwestern, sofern sie welche hat. Im Süden und Südwesten kann ich auf etliche hundert Kilometer eine Abfolge bestellter Felder, urtümlicher Wälder, roter Wüste und dann vielleicht wieder Wälder ausmachen, bis das Land mit Wolken und Dunst verschmilzt und keine Einzelheiten mehr zu erkennen sind, auch wenn man die Augen noch so sehr reibt und zusammenkneift.
Die Muse legt unseren Streitwagen in eine schwungvolle Kurve und setzt zur Landung am Westufer des Caldera-Sees an. Dort stehen riesige weiße Gebäude mit Säulen und Vortreppen, die mit gigantischen Ziergiebeln und Statuen geschmückt sind. Diesen Teil des Olymps hat bestimmt noch kein Scholiker gesehen … oder wenn, so ist er jedenfalls nicht am Leben geblieben, um uns anderen davon zu erzählen.
Wir gehen in der Nähe des größten der riesigen Gebäude hinunter. Als der Streitwagen den Boden berührt, verschwinden die Pferde. Mehrere hundert weitere Himmelswagen stehen wild durcheinander geparkt auf dem Rasen.
Die Muse holt so etwas wie ein kleines Medaillon aus ihrem Gewand. »Hockenberry, ich habe Anweisung bekommen, dich einen Ort zu bringen, an dem du eigentlich nicht sein dürftest. Eine der Göttinnen hat mir befohlen, dir zwei Dinge zu geben, die vielleicht verhindern, dass du entdeckt und wie eine Mücke zerquetscht wirst. Hier.«
Sie reicht mir zwei Gegenstände – ein Medaillon an einer Kette und eine Art Haube aus geprägtem Leder. Das Medaillon ist klein, aber schwer, als wäre es aus Gold. Die Muse streckt die Hand aus und schiebt einen Teil der Scheibe gegen den Uhrzeigersinn zurück. »Das hier ist ein persönlicher Quantenteleporter, wie ihn die Götter benutzen«, erklärt sie leise. »Er teleportiert dich an jeden Ort, den du dir bildlich vorzustellen vermagst. Außerdem kannst du mit dieser speziellen QT-Scheibe der Quantenspur der Götter folgen, wenn sie sich per Phasenverschiebung durch den Planckraum bewegen, aber niemand – außer der Göttin, die es mir gegeben hat – kann dir folgen. Verstehst du?«
»Ja.« Meine Stimme zittert beinahe. Ich sollte dieses Ding nicht haben. Es wird mein Tod sein. Das andere »Geschenk« ist noch schlimmer.
»Dies hier ist der Helm des Todes«, sagt sie und streift mir die reich verzierte Kopfbedeckung über, lässt sie jedoch wie eine Kapuze in meinem Nacken hängen. »Der Hades-Helm. Hades hat ihn selbst angefertigt, und er ist das Einzige im Universum, was dich vor den Augen der Götter verbergen kann.«
Ich blinzele benommen. Undeutlich erinnere ich mich an wissenschaftliche Anmerkungen zum »Helm des Todes«, und ich weiß noch, dass der Name Hades – auf Griechisch Äides – angeblich »der Unsichtbare« bedeutet. Aber soweit ich weiß, wurde Hades’ Helm des Todes nur einmal von Homer erwähnt, als Athene ihn aufsetzte, damit Ares, der Kriegsgott, sie nicht sehen konnte. Warum in aller Welt oder auf dem Olymp sollte eine Göttin mir dieses Ding
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