Ilium
völliger Unsinn. Ein Mythos. Folklore.«
Ada trat näher zu ihm. »Hast du dich noch nie gefragt, Daeman, woher sie gekommen sind?«
»Wer, meine Liebe?«
»Die Voynixe.«
Darüber lachte Daeman herzlich und ehrlich. »Natürlich nicht. Die Voynixe waren schon immer da. Sie sind dauerhaft, unveränderlich, ewig – sie bewegen sich, manchmal sieht man sie nicht, aber sie sind immer da – wie die Sonne oder die Sterne.«
»Oder die Ringe?«, fragte Hannah mit ihrer sanften Stimme.
»Genau.« Daeman freute sich, dass sie ihn verstand.
Harman zog ein schweres Buch aus dem Regal. »Ada hat mir erzählt, Daeman Uhr, dass du ein richtiger Lepidopterologe bist.«
»Verzeihung?«
»Ein Schmetterlingskundler.«
Daeman merkte, dass er errötete. Es war immer schön, wenn man für seine Fachkenntnisse Anerkennung fand, und sei es bei Fremden, die obendrein nicht alle Tassen im Schrank hatten. »Ein Schmetterlings kundler bin ich wohl kaum, Harman Uhr, nur ein Sammler, der ein wenig von seinem Onkel gelernt hat.«
Harman kam die Leiter herunter und trug das schwere Buch zu einem Lesetisch. »Dann dürfte dich das hier interessieren.« Er schlug das Artefakt auf. Eine glänzende Seite nach der anderen enthielt farbige Darstellungen von Schmetterlingen.
Sprachlos trat Daeman näher heran. Sein Onkel hatte ihm die Namen von ungefähr zwanzig Schmetterlingsarten beigebracht, und von anderen Sammlern hatte er die Namen einiger weiterer Exemplare erfahren, die er gefangen hatte. Er legte den Finger auf das Bild eines Western Tiger Swallowtail.
»Western Tiger Swallowtail«, sagte Harman und fügte hinzu: »Pterourus rutulus.«
Die letzten beiden Worte verstand Daeman nicht, aber er starrte den älteren Mann erstaunt an. »Du sammelst!«
»Keineswegs.« Harman zeigte auf ein vertrautes gold-schwarzes Bild. »Monarch.«
»Ja«, sagte Daeman verwirrt.
»Admiral, Perlmutterfalter, Field Crescentspot, Hauhechelbläuling, Distelfalter, Alpenapollo«, sagte Harman und tippte der Reihe nach auf die Bilder. Daeman kannte drei davon.
»Du kennst dich mit Schmetterlingen aus«, sagte er.
Harman schüttelte den Kopf. »Ich habe bis gerade eben nicht einmal daran gedacht, dass die verschiedenen Arten Namen haben.«
Daeman schaute auf die plumpe Hand des Mannes. »Dann besitzt du also die Lesefunktion.«
Harman schüttelte erneut den Kopf. »Diese Handtellerfunktion besitzt niemand mehr. Ebenso wenig wie Fernsprechen, Positionsbestimmung, Datenzugriff oder selbstständiges Wegfaxen von Knoten.«
»Dann …«, begann Daeman und hielt aufrichtig verwirrt inne. Machten sich diese Leute aus irgendeinem Grund über ihn lustig? Er war mit guten Vorsätzen hergekommen, um das Wochenende in Ardis Hall zu verbringen – nun ja, mit dem Vorsatz, Ada zu verführen, aber alles in guter Laune –, und jetzt dieses … boshafte Spiel?
Ada legte ihm die schlanken Finger an den Ärmel, als spürte sie seinen wachsenden Zorn. »Harman verfügt nicht über die Lesefunktion, Daeman Uhr«, sagte sie leise. »Er hat kürzlich lesen gelernt.«
Daeman machte große Augen. Das ergab nicht mehr Sinn, als sein neunundneunzigstes Lebensjahr zu feiern oder vom atlantischen Bruch zu faseln.
»Es ist eine Fertigkeit«, sagte Harman ruhig. »So wie du die Namen der Schmetterlinge oder deine berühmten Techniken als … Herzensbrecher erlernt hast.«
Dieser letzte Satz verblüffte Daeman. Ist mein zweites Hobby so bekannt?
Hannah ergriff das Wort. »Harman hat versprochen, uns diesen Trick beizubringen … das Lesen. Es könnte ganz nützlich sein. Ich muss etwas übers Gießen lernen, bevor ich damit weitermache und mir Verbrennungen hole.«
Übers Gießen? Daeman konnte sich nicht vorstellen, was es da zu lernen gab – selbst wenn man eine heiße Flüssigkeit von einem Gefäß in ein anderes goß, musste man doch bloß aufpassen, dass man sich dabei nicht die Finger verbrannte. Und was hatte das mit dem Erwerb der Lesefunktion zu tun? Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und sagte: »Ich habe kein Interesse an diesen Spielchen. Was wollt ihr von mir?«
»Wir müssen ein Raumschiff finden«, sagte Ada. »Und du könntest uns vielleicht dabei helfen.«
6
Olympos
Am Ende meiner Schicht in der Nacht des Streits zwischen Agamemnon und Achilles quantenteleportiere ich zum Scholikerkomplex auf dem Olymp zurück, zeichne meine Beobachtungen und meine Analyse auf, übertrage die Gedanken auf einen Wortstein und bringe ihn in das kleine
Weitere Kostenlose Bücher