Ilium
weiße Zimmer der Muse mit Blick auf den Caldera-See. Zu meiner Überraschung ist die Muse da. Sie unterhält sich mit einem anderen Scholiker.
Er heißt Nightenhelser – ein freundlichen Bär von einem Mann, der irgendwann im frühen zwanzigsten Jahrhundert als Collegelehrer im amerikanischen Mittelwesten gelebt hat und auch dort gestorben ist, wie ich im Verlauf der letzten vier Jahre seines Aufenthalts hier erfahren habe. Als die Muse mich an der Tür sieht, beendet sie ihr Gespräch mit Nightenhelser und schickt ihn durch ihre Bronzetür hinaus zu der gewendelten Rolltreppe, die vom Olymp zu unserer Kaserne und der roten Welt darunter führt.
Die Muse winkt mich heran. Ich lege den Wortstein auf den Marmortisch vor ihr, trete zurück und rechne damit, wie üblich wortlos entlassen zu werden. Zu meiner Überraschung hebt sie den Wortstein in meiner Anwesenheit auf, schließt die Finger darum und konzentriert sich mit geschlossenen Augen. Ich bleibe stehen und warte. Ich muss gestehen, dass ich nervös bin. Mein Herz klopft, und während ich in einer professoralen Parodie der »Rührt euch«-Stellung eines Soldaten dastehe, sind meine hinter dem Rücken verschränkten Hände schweißfeucht. Ich bin schon vor Jahren zu dem Schluss gekommen, dass die Götter in Wirklichkeit keine Gedanken lesen können – dass ihr unheimliches Wahrnehmungsvermögen der Gedanken Sterblicher, seien es Helden oder Scholiker, von einer hoch entwickelten Wissenschaft im Studium der Gesichtsmuskeln, der Augenbewegungen und dergleichen herrührt. Aber womöglich irre ich mich. Vielleicht sind sie doch telepathisch veranlagt. Falls ja, und falls sie im Moment meiner Epiphanie und Entschlussfassung am Strand nach dem Showdown zwischen Agamemnon und Achilles meine Gedanken gelesen haben, dann bin ich – wieder – ein toter Mann.
Ich habe erlebt, wie Scholiker das Missfallen der Muse – geschweige denn der wichtigeren Götter – erregt haben. Vor einigen Jahren, genauer: im fünften Jahr der Belagerung, gab es bei uns einen Scholiker aus dem sechsundzwanzigsten Jahrhundert, einen rundlichen, respektlosen Asiaten mit dem ungewöhnlichen Namen Bruster Lin, und obwohl er der intelligenteste und kenntnisreichste Scholiker unter uns war, wurde ihm seine Respektlosigkeit zum Verhängnis. Es ging um den mano a mano- Zweikampf zwischen Paris und Menelaos (der Sieger kriegt alles), der den Ausgang des Krieges entschieden hätte. Doch obwohl dieser Kampf zwischen Helenas trojanischem Geliebten und ihrem achäischen Gemahl – Mann gegen Mann, bis zum Tod – vor zwei Heeren inszeniert wurde, die sie anfeuerten – Paris strahlend schön in seiner goldenen Rüstung, Menelaos Furcht erregend mit seinem eiskalt-nüchternen Blick –, wurde er nicht zu Ende geführt. Aphrodite sah, dass ihr geliebter Paris zu Wurmfleisch verarbeitet werden würde, stieß herab und zauberte ihn vom Kampfplatz weg zu Helena, denn wie die saft- und kraftlosen Freisinnigen jedes Zeitalters erfocht Paris seine Siege eher im Bett als auf dem Schlachtfeld. Als diese Episode mit Paris und Menelaos Bruster Lin wieder einen seiner amüsanten und ironischen Kommentare entlockte, schnippte die alles andere als amüsierte Muse mit den Fingern, und die Myriaden gehorsamer Nanozyten im Körper des unglücklichen Scholikers sammelten sich, explodierten in einem gewaltigen Sprung der Nanolemminge nach außen und zerrissen den immer noch lächelnden Bruster Lin vor uns anderen in tausend blutige Fetzen, sodass uns, während wir in Habacht-Stellung dastanden, sein Kopf mit dem immer noch lächelnden Gesicht vor die Füße rollte.
Es war eine ernste Lektion, und wir nahmen sie uns zu Herzen. Keine redaktionelle Bearbeitung. Keine Späße mit der ernsten Angelegenheit des Zeitvertreibs der Götter. Der Tod ist der Ironie Lohn.
Jetzt schlägt die Muse die Augen auf und sieht mich an. »Hockenberry«, sagt sie im Ton einer Personalchefin aus meinem Jahrhundert, die im Begriff ist, einen mittleren Angestellten zu feuern, »wie lange bist du nun schon bei uns?«
Ich weiß, das ist eine rhetorische Frage, aber wenn man von einer Göttin gefragt wird, und sei es von einer unwichtigen, beantwortet man auch rhetorische Fragen. »Neun Jahre, zwei Monate und achtzehn Tage, Göttin.«
Sie nickt. Ich bin der älteste überlebende Scholiker. Oder vielmehr, ich bin der Scholiker, der am längsten überlebt hat. Sie weiß das. Vielleicht ist diese offizielle Feststellung meiner Langlebigkeit der
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