Ilium
treten beiseite, als die Muse sich diesem zentralen Pool nähert, und ich beeile mich, an ihrer Seite zu bleiben; meine unsichtbare Hand zittert an ihrem goldenen Arm, während ich zu verhindern suche, dass meine Sandalen quietschen, und mich bemühe, nicht zu stolpern, zu niesen oder zu atmen. Keine der Gottheiten scheint mich wahrzunehmen. Andernfalls würde ich es vermutlich sehr schnell merken.
Die Muse macht ein paar Meter von Pallas Athene entfernt Halt, und ich bleibe so nah bei ihr, dass ich mir wie ein Dreijähriger vorkomme, der sich am Rockzipfel seiner Mutter festhält.
Ein heftiger Streit ist im Gange, obwohl Hebe – eine der untergeordneten Göttinnen – zwischen den anderen hin und her geht und ihnen goldenen Nektar in die goldenen Pokale gießt. Zeus sitzt auf seinem Thron, und ich sehe auf den ersten Blick, dass er hier der König ist, er, der die Sturmwolken treibt, der Gott unter den Göttern. Dieser Zeus ist keine Zeichentrickfigur, sondern eine Realität, eine unglaublich große, bärtige, eingeölte und spürbar königliche Präsenz, die mein Blut in furchtsamen Schlick verwandelt.
»Wie können wir den Verlauf dieses Krieges oder auch nur das Schicksal Helenas kontrollieren«, will er von allen Göttern wissen, obwohl er dabei seine Gemahlin, Hera, mit Blicken durchbohrt, »wenn Göttinnen wie Hera von Argos oder Athene, Wächterin ihrer Soldaten, sich fortwährend einmischen – indem sie zum Beispiel Achilles’ Hand festhalten, als er den Atreussohn gerade bluten lassen will?«
Er richtet seinen Sturmwolkenblick auf eine Göttin, die auf violetten Kissen ruht. »Oder du, immer lächelnde Aphrodite, die du stets diesem hübschen jungen Paris beistehst, Dämonen vertreibst und gut geworfene Lanzen ablenkst. Wie kann der Wille der Götter – und noch wichtiger, der von Zeus – selbst hier klar sein, wenn ihr Göttinnen euch fortwährend einmischt und eure Lieblinge auf Kosten des Schicksals schützt? Trotz all deiner Machenschaften, Hera, könnte Menelaos Helena heimführen … oder wer weiß, Ilium könnte bestehen bleiben. Es steht einigen wenigen Göttinnen nicht zu, über diese Dinge zu entscheiden.«
Hera verschränkt ihre schlanken Arme. Weil sie in dem Versepos so häufig als »weißellbogige Göttin« bezeichnet wird, rechne ich halb damit, dass ihre Arme weißer sind als die der anderen Göttinnen, doch Heras Haut ist zwar milchig, aber nicht wesentlich milchiger als die von Aphrodite, Heras Tochter Hebe oder einer anderen Göttin, die ich von meiner Position hier in der Nähe des Bilderpools aus sehen kann … ausgenommen Athene, heißt das, die merkwürdig braun wirkt. Ich weiß, diese beschreibenden Passagen sind der speziellen homerischen Dichtkunst geschuldet; Achilles wird mehrfach als »fußschnell« bezeichnet, Apollo als »fernhintreffend«, und vor Agamemnons Name steht für gewöhnlich »der mächtige Herr« oder »Herrscher der Männer«; die Achäer sind »gut geschient«, ihre Schiffe »schwarz« oder »bauchig« und so weiter. Diese wiederholten Epitheta dienten nicht so sehr der reinen Beschreibung, sondern entsprachen eher den hohen Ansprüchen daktylischer Hexameter und waren für den Sänger eine Methode, metrischen Anforderungen mit formelhaften Phrasen gerecht zu werden. Ich habe immer vermutet, dass einige dieser rituellen Wendungen – zum Beispiel »als in der Frühe erschien die rosenfingrige Eos« – auch verbale Platzhalter waren, die dem Sänger ein paar Sekunden Zeit verschafften, um sich die nächsten Zeilen der Handlung ins Gedächtnis zu rufen, wenn nicht gar sie zu erfinden.
Trotzdem betrachte ich Heras Arme, als sie ihrem Gatten antwortet. »Was redest du da, Kronide, du schrecklicher?«, hebt sie an, die weißen Arme verschränkt. »Wie kannst du es wagen, auch nur zu erwägen, meine ganze Arbeit fruchtlos zu machen? Wie viel Schweiß – unsterblichen Schweiß – habe ich vergossen, um das achäische Kriegsvolk zu sammeln und das Ego dieser männlichen Helden zu streicheln, damit sie sich nicht gegenseitig umbringen, bevor sie Trojaner töten, und welche Mühe habe ich mir gegeben, o Zeus, König Priamos, seinen Söhnen und seiner Stadt Unheil zu bringen?«
Zeus runzelt die Stirn und beugt sich auf seinem unbequem aussehenden Thron vor. Er ballt die riesigen weißen Hände zu Fäusten und öffnet sie wieder.
Hera breitet erbittert die Arme aus und wirft die Hände in die Luft. »Tu, was du willst – so wie immer –, aber erwarte
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